Jugendarbeitslosigkeit in Europa

In zwei Artikeln schreibt Spiegel Online über Jugendarbeitslosigkeit in Europa.

Jugendarbeitslosigkeit: Einsame Azubis im gelobten Land

In großem Stil will Arbeitsministerin Ursula von der Leyen junge Südeuropäer auf deutsche Lehrstellen lotsen. Helfen soll der Azubi-Import gegen deutschen Fachkräftemangel wie auch Europas Jugendarbeitslosigkeit. Aber oft scheitern die Jugendlichen an Alltagskummer: Heimweh.

Agnesa Haxha, 23, kommt der Traumfrau aller Berufsberater ziemlich nahe. Sie spricht perfekt Deutsch, ist gebildet und motiviert. Im grauen Hosenanzug beobachtet sie die Pressekonferenz bei einem Anwerbe-Event für junge Ausbildungszuwanderer. Und sagt, als sie dran ist: "Das Ziel ist, dass wir etwas von dem, was wir in Deutschland lernen, wieder ins Kosovo zurückbringen werden. Wir wollen etwas an andere junge Kosovaren weitergeben."

Haxha gehört zu jungen Kosovo-Albanern, denen ein großes Privileg zuteil wird. Das kleine, von vielen Staaten nicht anerkannte Land in Ex-Jugoslawien hat das Kunststück fertig gebracht, mit Deutschland auf Regierungsebene einen Pakt zu schließen: Die Bundesrepublik lotst junge Kosovaren ins Land. Es sind zwar nur 25, aber die bekommen ein Rundum-Sorglos-Paket. Sorgsam ausgewählt aus 150 Bewerbern, werden sie von der Dortmunder Handwerkskammer an die Hand genommen und bekommen ihren Segen von ganz oben: vom deutschen Entwicklungshilfeministerium. Sonst ist Azubi-Import immer sehr kompliziert.

Agnesa Haxha und ihre 24 Mitreisenden sollen nur den Anfang machen: Länder wie Spanien und Frankreich hoffen auf ähnliche Regelungen für ihre Heere arbeitsloser Jugendlicher - im großen Stil.

Am Mittwoch trifft sich Ursula von der Leyen in Berlin mit allen europäischen Arbeitsministern. Dabei geht es nicht nur, wie die "Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung" schrieb, um das Gesellenstück der CDU-Karrierefrau auf internationalem Parkett. Von der Leyen hat, wie üblich, ihren Vorstoß penibel vorbereitet. Sie präsentiert angeblich eine gesamteuropäische Lösung für die verheerende Jugendarbeitslosigkeit. So lautet auch die Sprachregelung aus ihrem Ministerium: Keine nationalen Alleingänge, es geht um Europa!

 

Hightech und Hightouch heißen die Problemzonen

 

In Wahrheit hält von der Leyen den Staubsauger bereit, um die besten und ehrgeizigsten Jugendlichen nach Deutschland zu holen. Zwei Problemzonen des deutschen Ausbildungsmarktes sollen versorgt werden: Hightech, also hochqualifizierte Ausbildungen - alles, was mit Mechatronik und Technik zu tun hat. Und Hightouch, nämlich niedrigbezahlte und harte Berufszweige, in denen Deutsche kaum mehr anfangen: Hotels und Gaststätten, Nahrungsmittelindustrie, Friseursalons.

Von der Leyens Offensive hat drei Spitzen:

 

  • Bereits seit Januar läuft das MobiPro-Projekt. Mit 139 Millionen will das Arbeitsministerium jungen Zuwanderern den Sprung ins deutsche Lehrlingswesen erleichtern: Sie bekommen Deutschkurse im Heimatland wie vor Ort; ihre Reisekosten werden bezahlt, Praktikums- und Azubi-Gehälter aufgestockt. Denn in Deutschland wartet, so der Lockruf der Anwerbe-Homepage "thejobofmylife.de" - der "Job meines Lebens".
  • Das sperrige Bundesinstitut für Berufsbildung (BiBB) wird ausgebaut zu einer Zentralstelle für internationale Berufsbildungskooperation, das soll das Kabinett Mittwoch beschließen. Damit Jugendliche leichter nach Deutschland kommen, soll das BiBB die bilateralen Vereinbarungen zwischen sechs europäischen Ländern und Deutschland unterstützen - und im Gegenzug das in Europa weitgehend unbekannte duale Ausbildungswesen (Lernen in Betrieb und Berufsschule) dorthin exportieren.
  • Parallel dazu wollen Europas Arbeitsminister unter Führung von der Leyens zusammen mit den Regierungschefs sechs Milliarden Euro bereitstellen, um eine Art Ausbildungsgarantie für Europa zu verabschieden. Wie die Projekte im Detail aussehen, hat von der Leyen in Papieren mit mehreren europäischen Kollegen vorbereitet. Am Dienstag unterzeichnete sie erneut ein solches "Memorandum of Understanding" mit Portugals Arbeitsminister Pereira. Von der Leyen selbst hat bereits vor der Konferenz die Latte höher gelegt. Die sechs Milliarden seien viel zu wenig, man könne weitere 16 Milliarden Euro im EU-Budget umwidmen, um eine "verlorene Generation in Europa" zu verhindern.

 

Der Von-der-Leyen-Initiative kann man sich schwer entgegenstellen. Von den Quoten der Jugendarbeitslosigkeit in Europa wird einem schwindelig: 26 Prozent in Frankreich, in Italien und Portugal über 40, in Spanien 56 und in Griechenland gar 59 Prozent. Nachdem man teure Rettungsschirme über Europas Banken aufgespannt hat, erwarten viele nun das Gleiche für den Nachwuchs. Dennoch kritisierte Martin Schulz (SPD), Präsident des Europaparlaments, es helfe Europas Jugend nicht, wenn sie zum Stopfen der deutschen Azubi-Lücken benutzt werde.

 

"Ohrfeige für junge Deutsche"?

 

Auch die Linken-Politikerin Sahra Wagenknecht lehnte Lehrstellen für Südeuropäer ab - und rutschte prompt in eine nationale Tonlage. Das Programm, schimpfte Wagenkecht, sei "eine Ohrfeige für Hunderttausende junge Menschen, die in Deutschland leben". Erst treibe die deutsche Regierung die europäischen Länder in die Krise - "und dann sollen die talentiertesten Jugendlichen nach Deutschland abgeworben werden".

Fachleute aus der Berufsbildung winken bei solchen Sprüchen ab. Sie sehen zu wenige Azubi-Zuwanderer nach Deutschland kommen, nicht zu viele. Für Deggendorf trommelt CSU-Landrat Christian Bernreiter schon seit 2011 in der Partnerstadt Burgas, nur 40 junge Bulgarier sind gekommen. Warum so zögerlich, wo doch 33.000 Lehrstellen in Deutschland unbesetzt sind?

Die Suche nach ausländischen Lehrlingen koste "dramatisch viel Mühe und Geld", weiß Peter L. Pedersen von der Hanseatischen Weiterbildungs- und Beschäftigungsgemeinschaft in Rostock. Pedersen zählt zu den Pionieren der Anwerbung im Ausland. Für den Hotel- und Gaststättenverband Dehoga holte er die ersten Jugendlichen nach Deutschland. Ein zähes Geschäft: Bisher sind nur 29 Jugendliche und junge Erwachsene dem Ruf an Pedersens Hotelschule gefolgt - aus Ungarn, der Slowakei, Tschechien, "jetzt soll auch der erste Brite dabei sein". Weitere 35 werden in den nächsten Tagen eintreffen.

Bei der Zentralen Auslands- und Fachvermittlung (ZAV) in Bonn läuft es kaum besser. Sie gehört zur Bundesanstalt für Arbeit und ist zuständig für das "thejobofmylife"-Programm. 2100 Anträge verzeichnet die ZAV - dahinter dürften sich lediglich 400 bis 600 Bewerber verbergen. Denn es gibt zwölf Einzel-Fördertöpfe, vom Deutschkurs über Anreisepauschalen und Lebensunterhalt-Hilfen bis zur sozialpädagogischen Betreuung. Jeder Lehrlingswanderer muss also mehrere Anträge stellen.

 

Heimweh und Einsamkeit

 

Wer vertraulich mit den neuen Mobilitätsberatern der Kammern spricht, erfährt schnell, welch profanes Sentiment die Anwerbung komplex macht: Heimweh und Einsamkeit.

Ein Experte von der Dortmunder Handelskammer berichtet, "dass die jungen Leute massiv betreut werden müssen. Da braucht man regelrecht Animation. Unter der Woche funktionieren die. Aber was passiert, wenn sie von Freitagnachmittag bis Sonntagabend merken, dass sie ganz allein sind?"

Einen "deutlichen Schwund von 30 bis 50 Prozent" prophezeit eine ZAV-Fachkraft. "Die Jugendlichen aus Südeuropa haben eine ganz andere Heimat- und Familienverbundenheit. Sie reisen nicht freiwillig aus - sondern nur, weil die Lage in ihren Ländern so verzweifelt ist." Und jetzt kommen erst die harten Fälle dran. "Alle deutschsprechenden Bewerber sind bereits abgegrast", sagt der Vermittler und bittet darum, seinen Namen nicht zu nennen.

Viel Erfahrung hat Christoph Heil von der Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit. Er fördert lange schon im Ausland Berufsbildung und hat in Pristina die Auswahl der jungen Kosovaren begleitet. Heil sieht eine Doppelbarriere - die Sprache und zugleich die Unkenntnis des deutschen Lehrlingswesens. "Das große Missverständnis: Die jungen Menschen denken, akademische Bildung mache sie handlungskompetent für den Beruf. Sie wissen nicht, was richtige Berufsausbildung im Betrieb ist." Heils Plädoyer: "Die jungen Leute müssen sehr gut ausgewählt und auf ihren Aufenthalt in Deutschland vorbereitet werden - am besten im Herkunftsland. Eine Ausbildung in Deutschland zu organisieren, braucht daher eine kompetente Moderation der verschiedenen Stellen."

Aber an Fürsorge für einsame Zuwanderer hapert es. Die 29 Azubis, die bei Peter L. Pedersen in Rostock Deutsch lernen und Hotelpraktika machen, warten seit April auf ihren Reisekostenzuschuss: "Wir haben überall das Geld zusammenkratzen müssen, weil die Arbeitsagenturen nicht überweisen."

Vielleicht liegt's auch daran, dass Pedersen bei seinen Schützlingen bisher eine 100-prozentige Vermittlungsquote vorzuweisen hat - sie haben schlicht kein Geld, um wieder nach Hause zu fahren.

Jugendarbeitslosigkeit in Europa: Gipfel der Hoffnungslosigkeit

Millionen europäische Jugendliche haben keinen Job, wertvolle Zeit ist verspielt. Jetzt hat Angela Merkel zum Gipfel geladen, Staats- und Regierungschefs kommen. Das Treffen darf nicht zur Show verkommen - denn die Arbeitslosigkeit hinterlässt tiefe Narben bei einer ganzen Generation.

Die Sorge um die Jugend ist plötzlich groß. Zum Gipfel in Berlin strömen am Mittwoch die Mächtigen Europas. Keiner will fehlen, wenn Angela Merkel ins Kanzleramt lädt. Die Kanzlerin darf sich endlich mal als mitfühlende Europäerin zeigen, die EU-Staats- und Regierungschefs präsentieren sich als Handelnde statt als Getriebene.

Schon vor dem Treffen überbietet sich die Politik mit starken Appellen. "Unsere Jugendlichen brauchen Aktionen, Entscheidungen, Arbeit - also lasst es uns anpacken", sagte EU-Kommissionschef José Manuel Barroso am Dienstag. "Es darf keine verlorene Generation geben", warnte Merkel via Interview, die bereits beim EU-Gipfel vergangene Woche klarmachte: "Schön wäre, die Jugendlichen in Europa merken mal, dass wir was tun."

Das wäre tatsächlich wichtig. In Europa waren im Mai mehr als 5,6 Millionen junge Menschen unter 25 Jahren ohne Job, das entspricht einer Arbeitslosenquote von knapp 23,5 Prozent. Immerhin wird endlich über die arbeitslosen Jugendlichen gesprochen - das ist ein wichtiges Zeichen, reicht aber nicht. Der Gipfel kommt viel zu spät.

Schon vor der Krise hatten viele junge Menschen im Süden Europas keinen Job, das Problem verschärfte sich dramatisch mit der Rezession. Die Strukturen auf dem Arbeitsmarkt waren verkrustet, die Investitionen in die Bildung zu niedrig. In Spanien wollte schon die sozialistische Vorgängerregierung 2010 die Ausbildung reformieren: Geredet wurde viel, geschehen ist nichts. Statt Ideen zu entwickeln, bekämpften sich die Parteien.

Das soll sich nun ändern - aber auch auf dem Gipfel im Kanzleramt wird wohl nichts beschlossen. Die Gipfelteilnehmer sollen sich vor allem austauschen, im Herbst will man dann wieder zusammenkommen. Also alles reine Kosmetik?

 

Wertvolle Jahre verspielt

 

Eine feste Summe im Kampf gegen die Jugendarbeitslosigkeit steht immerhin fest. Sechs Milliarden Euro sollen in den kommenden zwei Jahren investiert werden - sie sind für Regionen gedacht, wo mehr als 25 Prozent der jungen Menschen einen Job suchen. Wie genau das Geld verwendet werden soll, ist allerdings immer noch nicht klar.

Als eines der wichtigsten Projekte sehen Experten den Aufbau eines dualen Ausbildungssystems wie in Deutschland. Das aber dauert Jahre. Neben den dringend notwendigen Investitionen in Bildung sind auch Reformen bei der Struktur des Arbeitsmarktes wichtig. Im Süden Europas genießen Ältere oft unkündbare Verträge, während junge Menschen bestenfalls zeitweise arbeiten dürfen. Doch auch hier kommen die Krisenländer nicht voran.

Die Politiker etwa in Frankreich und Italien trauen sich nicht, die Strukturreformen in Angriff zu nehmen, sie fürchten die Macht der Gewerkschaften und der älteren Arbeitnehmer - alles wichtige Wähler. Und so geschieht: nichts.

Veränderungen kosten Zeit, wertvolle Jahre sind verspielt worden. Das ist zu einer großen Gefahr geworden. Europa droht eine Generation zu verlieren.

 

Wenn eine ganze Generation ihren Mut verliert

 

Denn viele Jugendliche finden seit Jahren keine feste Arbeit, sie hangeln sich von Job zu Job und finden irgendwann keinen mehr. Lebenslang haben diese jungen Menschen - einst mit großen Hoffnungen gestartet - schlechtere Berufsaussichten und wohl auch niedrigere Löhne, rechnet der Ökonom Wolfgang Franz vor.

Schon jetzt verliert eine ganze Generation den Mut. Auch in Deutschland ist der Einstieg ins Berufsleben anfangs oft schwierig, sagt Professor Heiner Keupp, aber bei vielen Jugendlichen in den Krisenländern schwindet die Hoffnung, dass sie es überhaupt schaffen können. "Es fehlt das Sprungbrett in eine wichtige Phase des Lebens", so der Sozialpsychologe; eine Phase, in der viele in eigenen Wohnungen wohnen, sich orientieren, irgendwann über Kinder nachdenken. In Spanien ist das Gegenteil zu beobachten: Aus Mangel an Geld bleiben junge Menschen bei ihren Eltern wohnen. Sie hängen fest. Was ihnen kurzfristig hilft? Nicht wenige Experten sind der Meinung, dass die jungen Menschen ins Ausland gehen müssen, sich dort weiterbilden.

Unterstützung finden sie zum Beispiel durch das neue Förderprogramm MobiPro-EU. Rund 5.000 junge Spanier sollen in den kommen vier Jahren in Deutschland einen Ausbildungsplatz oder eine Arbeitsstelle erhalten.

Arbeitsministerin Ursula von der Leyen wirbt für dieses Programm gerne öffentlichkeitswirksam: "Wir müssen für diese jungen Menschen eine Antwort geben, dass Europa für sie Perspektiven hat, und zwar jetzt."

So bietet der Gipfel im Kanzleramt der Bundesregierung die schöne Gelegenheit, nicht ständig den bitteren Sparmeister zu geben, sondern den sanften Förderer. Doch auch am Mittwoch wird die Kritik an Berlin nicht zu überhören sein: Mit dem Sparkurs werde das Wachstum abgewürgt - und ohne Wachstum keine Jobs. Viele Euro-Länder leiden noch immer unter der schweren Rezession. Im gesamten Euro-Raum schrumpft die Wirtschaft nach Ansicht der EU-Kommission in diesem Jahr um 0,4 Prozent.


Quelle: Spiegel Online, spiegel.de, beide 03.07.2013