"München stelle ich mir toll vor"

Goethe in Indien: Schulen, die dort als erste Fremdsprache Deutsch anbieten, erleben eine enorme Nachfrage. Doch ausgerechnet gut ausgebildete Lehrer sind Mangelware.

Als Ekta Kapoor den kleinen Raum betritt, wird es schlagartig still. Die Schülerinnen und Schüler der siebten Klasse stehen von ihren Stühlen auf. Die Arme seitlich eng angelegt, warten sie auf ein Zeichen. Als Kapoor ihnen kurz zunickt, rufen sie lautstark: "Guten Tag, Frau Lehrerin!"

Kapoor, 30, unterrichtet an der Andrews-Ganj-Schule im Süden Delhis. Und ihre Schüler sprechen: Deutsch. Fast vollkommen akzentfrei. "Liebe Schüler, guten Tag. Wie geht es euch heute?", fragt Kapoor. "Guuuut", schallt es zurück.

Im Unterricht geht es heute um Essen. "Was isst du in der Pause?", fragt sie ihre Schüler. Sie zeigt auf die weiße Leinwand neben ihr, wo das Bild eines großen, roten Apfels zu sehen ist. Vierzig Zeigefinger schießen in die Höhe, alle Schüler der Klasse melden sich. "Jatin? Du vielleicht?", fragt die Lehrerin. Jatin sitzt in der zweiten Reihe. Der schwarzhaarige Junge steht auf und behauptet, er esse in der Pause sehr gerne einen Apfel. Rapoor nickt: "Richtig, Jatin. Gut gemacht." Als dann Jatin auch noch das Geschlecht der Frucht richtig benennt - "Es heißt der Apfel, Frau Kapoor" -, greift die Lehrerin zu ihrem Notizheft, nimmt einen kleinen Aufkleber heraus und klebt ihn Jatin auf die Brusttasche seines Hemds. Dort steht nun in großen Buchstaben: Spitze!

 

Staatlicher Schulverband umfasst 1.000 Schulen

 

Die Andrews-Ganj-Schule in Indiens Hauptstadt Delhi gehört zum staatlichen Schulverband Kendriya Vidyalaya, kurz KV genannt, der mehr als 1.000 Schulen in ganz Indien umfasst, die vor allem für Kinder von Regierungsangestellten gedacht sind, die regelmäßig innerhalb Indiens versetzt werden. Deshalb ist ihr Lehrplan überall gleich. Die KV-Schule Andrews Ganj hat 3.000 Schüler; davon haben 200 Deutsch gewählt.

Jatin zum Beispiel ist 11; Deutsch lernt er seit gerade mal einem Jahr. Er trägt ein blau-weiß kariertes Hemd mit rotem Kragen, dazu eine graue Stoffhose und schwarze Schuhe - die Schuluniform der Andrews-Ganj-Schule - und schaut den deutschen Besucher jetzt aufmerksam an. "In Deutschland spielen doch viele Leute Fußball", sagt er. Als Kapoor ihn fragt, ob er denn einen deutschen Spieler kenne, nickt Jatin und sagt: "Ich kenne Özil." Kerzengerade steht Jatin da und lächelt. Dann fügt er hinzu: "Und Merkel."

 

"Frau Merkel ist doch die Kanzlerin"

 

Als die kleine Tasleen das hört, dreht sie sich um. Das Mädchen mit schulterlangen Zöpfen sitzt ganz vorne in der ersten Reihe. Schnell hält sie sich die Hand vor den Mund, dann kichert sie leise los. "Frau Merkel ist doch die Kanzlerin", sagt sie. Nun lachen alle, auch Jatin.

Deutschland ist in dem kleinen Unterrichtsraum im ersten Stock allgegenwärtig; an den Wänden hängen allerlei Bastelarbeiten der Schüler: zahlreiche Deutschland-Fahnen, eine Deutschland-Karte, ein randvoll gefüllter Bierkrug und ein runder Fußball aus Papier. Die Bücher für das neue Schuljahr seien noch nicht geliefert worden, erklärt Kapoor. "Deshalb haben die Kinder in den vergangenen Tagen zum Thema Deutschland gebastelt."

An den Fenstern hängen lange Vorhänge. Sie verdunkeln den Raum, damit die Hitze draußen bleibt. Es ist 11 Uhr, draußen sind es bereits 38 Grad. Zwei weiße Deckenventilatoren sorgen zumindest für einen leichten Luftzug - und ein monotones Surren. Die Schüler stört das nicht. Zu zweit sitzen sie auf kleinen Holzbänken und folgen den Erklärungen der Lehrerin. Kein Platz ist mehr frei.

"Der Andrang ist unglaublich", sagt Lashmi Mishra. Die Rektorin leitet seit zwei Jahren die Andrews-Ganj-Schule, doch so einen Zulauf habe sie noch nicht erlebt. In ganz Indien gibt es derzeit schätzungsweise 80.000 Schüler, die Deutsch als Fremdsprache wählen. Seit Jahren steigt die Zahl der Interessenten kontinuierlich an: "Es scheint, als wollten plötzlich alle Deutsch lernen." Ihre Schule, erzählt Mishra, sei eine der wenigen, die Deutsch in zwei Schichten anböten, vormittags und nachmittags.

Die Andrews-Ganj-Schule ist Teil des Projekts "Deutsch an 1.000 Schulen" zwischen dem deutschen Goethe-Institut und der KV-Schulkette. Von der 6. bis zur 8. Klasse dürfen indische Schüler neben den Amtssprachen Hindi und Englisch eine "erste" Fremdsprache lernen. Bisher war neben Hindi und Englisch das altehrwürdige Sanskrit die einzige Sprache im Lehrplan.

Vor knapp zwei Jahren entschied das zuständige Ministerium, weitere Fremdsprachen an der staatlichen Schulkette einzuführen. Und die Wahl fiel nicht auf Spanisch, Chinesisch, Russisch oder Französisch - sondern auf Deutsch. Inzwischen unterrichten etwa 300 KV-Schulen Deutsch als Wahlpflichtfach. Ziel des Projekts ist es, dass spätestens 2017 an allen 1.000 KV-Schulen in Indien Deutsch als erste Fremdsprache unterrichtet wird. Es wären dann eine Million indische Schulkinder, die Deutsch lernen.

 

Deutschkurse sind vollkommen überlaufen

 

Dass das Projekt "Deutsch an 1.000 Schulen" ein Erfolg wird, sieht auch der deutsche Botschafter Michael Steiner gerne. Überall in Indien seien die Deutschkurse vollkommen überlaufen, die Nachfrage übersteige seine Erwartungen deutlich, sagt er. "Über die Sprache führen wir junge Inderinnen und Inder an Deutschland heran, wecken ihr Interesse an unserem Land. Davon werden wir in Zukunft sehr profitieren." Mit der Sprachoffensive wolle man nicht nur die Beziehungen zu Indien vertiefen, sondern vor allem auch gut qualifizierte Inder für Deutschland begeistern. "Für deutsche Unternehmen ist Indien ein Zukunftsmarkt", sagt Steiner. "Schon jetzt besteht ein großer Bedarf an Deutsch sprechenden indischen Fachkräften." Bisher gingen die Inder leider lieber nach Amerika oder England. Das soll sich nun ändern.

Doch "Deutsch an 1.000 Schulen" bedeutet auch: Mindestens 1.000 Deutschlehrer werden benötigt. Eine so große Anzahl auszubilden ist nicht einfach. Es gibt bisher noch keine Hochschulausbildung für Deutschlehrer. Ohne eine universitäre Ausbildung erhalten die Lehrkräfte jedoch keine Festanstellung an den Schulen. Deshalb wollen viele Lehrer nicht in Kleinstädten oder auf dem Land arbeiten, dazu fehlt ihnen die finanzielle Absicherung.

Bei den deutsch-indischen Regierungskonsultationen im April in Berlin wurde daher eine Absichtserklärung über die Deutschlehrerausbildung an Universitäten unterschrieben: Deutsch wird die erste Fremdsprache sein, in der Lehrer auf Universitätsniveau ausgebildet werden. "Das war ein wichtiger Schritt", sagt Steiner.

Denn bisher bilden die Goethe-Institute den größten Teil der Lehrer aus, in zum Teil kostenlosen Sprachkursen. "Der Bedarf ist groß", weiß Alicia Padrós, die Leiterin Bildungskooperation Deutsch am Goethe-Institut in Delhi. Padrós verweist auf einen Aspekt: "Vor allem Frauen nehmen unser Angebot war. Für Frauen gilt der Lehrerberuf als sehr respektabel."

2012 lernten an den sechs Instituten in Delhi, Pune, Bangalore, Chennai, Bombay und Kalkutta ungefähr 13 000 Inder Deutsch. Und an allen Standorten sei die Tendenz weiter steigend. "Vor allem ein Mangel an qualifizierten Lehrern sowie an entsprechenden Räumen halten uns davon ab, deutlich mehr Kurse anzubieten", sagt Padrós.

 

Ärztin in Deutschland werden ist der Traum

 

Ekta Kapoor, die Lehrerin von der Andrews-Ganj-Schule, hatte also Glück, sie ergatterte einen der begehrten Plätze. Zunächst lernte sie Deutsch in einem Sprachkurs am Goethe-Institut, später nahm sie noch an einem Kurs an der Universität in Delhi teil, um ihre Kenntnisse zu vertiefen. Seit vier Jahren steht sie nun selbst vor Schülern, seit zwei Jahren an der Andrews-Ganj-Schule. Jeden Tag, von Klassenstufe 6 bis 8: "Es macht mir großen Spaß zu sehen, wie begeistert die Schüler bei der Sache sind. In diesem Alter lernen sie sehr schnell."

Als die kleine Tasleen erzählt, dass sie gerne einmal als Ärztin in Deutschland arbeiten möchte, lächelt die Lehrerin. Kapoor selbst war noch nie in Deutschland. Sehr gerne würde sie einmal das Land besuchen, dessen Sprache sie in ihrer Heimat unterrichtet. "München stelle ich mir toll vor", sagt sie. Da meldet sich Jatin und sagt: "Dort spielt auch Bayern München."


Quelle: Frankfurter Allgemeine FAZ, faz.net, 05.06.2013