China kopiert die deutsche duale Ausbildung

Die Zeiten, in denen Chinas Wettbewerbsvorteil in den schlecht bezahlten Arbeitern bestand, gehen vorüber. Es sind zunehmend gut qualifizierte Facharbeiter gefragt – mehr noch als Akademiker.

Xiao Zhang ist 17 Jahre alt, hat seit einem Jahr die Mittelschule hinter sich und lernt Logistik. Sie feuert ihre Freundin beim Manövriertest an, eine voll beladene Palette auf Rädern durch einen mit Kartons umzäunten Gang zu schieben. In der Kurve fliegen die Pakete aus der Bahn. Der Ausbilder notiert einen Minuspunkt. Die 45 Mitschüler johlen. Der nächste ist dran.

Die in einer Mehrzweckhalle improvisierte Übung über die Tücken des Transports ist praktischer Teil der Zwischenprüfung für Lehrlinge im ersten Semester Logistik. Im Unterrichtsraum zeigen Großmodelle und "Just in Time"-Abläufe, wie modernes Transportwesen funktioniert.

Der dreijährige Studiengang soll aus den Berufsschülern heiß begehrte Fachkräfte für die boomende Logistikindustrie machen. Er ist einer der Ausbildungswege, die das neue Berufsschulzentrum im südwestchinesischen Chengdu anbietet, ebenso wie für Kfz-Mechaniker, Chemiearbeiter, Werkzeugmacher, CNC-Technikern oder moderne Dienstleistungen.

Im Süden der 14 Millionen Einwohner-Metropole steht der gigantische Komplex, zu dem sich 2011 sechs Berufsschulen zusammengeschlossen haben. Mit seinen fünf Zweigstellen soll er helfen, den steigenden Bedarf an Facharbeitern in sechs Provinzen von West- und Südwestchina abzudecken. 1.200 technische Lehrer unterrichten 20.000 Langzeit- und 10.000 Kurzzeitlehrlinge.

 

Berufsbildungszentrum in Chengdu bildet Facharbeiter aus

 

450 Mittelschüler machen eine Berufsausbildung mit Schwerpunkt Logistik. Nach dem zweiten Lehrjahr gehen sie wie die Berufsschüler in anderen Fächer im dritten Jahr zu ihren Praktika in Großbetriebe. Dazu arbeitet das Berufsbildungszentrum, in das Chengdu bisher umgerechnet 130 Millionen Euro investiert hat, mit 200 Unternehmen zusammen. Es hat 124 Ausbildungsabkommen geschlossen, darunter auch mit einem halben Dutzend ausländischer und deutscher Konzerne.

Sie betreiben mit der Berufsschule ein auf ihre Bedürfnisse maßgeschneidertes Facharbeiter-Training. Lehrlinge, die gut abschneiden, können sich über Spezialkurse weiter qualifizieren. "Im Durchschnitt schaffen es 20 Prozent auf diese höhere Stufe", sagt Schulleiter Liao Debin.

26 junge Schweißer haben den Sprung geschafft. Wenige hundert Meter von der Logistik-Halle entfernt werden sie in der 1.400 Quadratmeter großen "Österreich Halle" in drei Monaten zu Fachschweißern fortgebildet. Ihre fünf chinesischen Lehrer sind als Ausbilder ISO-zertifiziert. "Hier läuft alles nur nach ISO-Standard", sagt der österreichische Projektleiter Ernst Buchinger vom Wirtschaftsförderinstitut (WIFI) der Österreichischen Wirtschaftskammer.

 

Schweißer-Ausbildung in Zusammenarbeit mit Österreich

 

Der Prüfer bringt 15 Jahre Erfahrung in China mit. Er hat die Lehrmaterialien und den Lehrplan für den Ausbildungsgang mitverfasst. Im Juli 2011 vereinbarte Österreichs Kammer mit der Stadt Chengdu den Aufbau eines "Internationalen Zentrum für Schweißerausbildung".

Jedes Jahr fliegen Buchinger und ein weiterer WIWI-Ausbilder aus Österreich ein, um die Lehrlinge an 20 modern ausgerüsteten Schweißer-Plätzen für die Prüfung vorzubereiten und sie abzunehmen. 2013 bestanden alle 18 Schweißer der ersten Gruppe. Eineinhalb Tage dauert im Juni die Prüfung der zweiten Gruppe, von denen keiner "etwas geschenkt bekommt."

Am Tag darauf kann Buchinger bei der feierlichen Vergabe der international anerkannten Zertifikate mit Berechtigung sagen: "Ich bin sehr stolz auf Euch." Am meisten strahlt unter den 26 Ausgezeichneten die 18-jährige Lin Xue, die einzige Frau unter ihnen. "Die Schüler sind alle hoch motiviert", sagt Schulleiter Liao.

Bei der Industrie im ersten Probejahr werden sie mit bis zu 5000 Yuan (600 Euro) Monatsgehalt anfangen. Danach steigt es rasch auf das Doppelte. Nur die Zahl der Facharbeiter sei noch zu gering. In Chengdu allein werden 1.500 Schweißer pro Jahr gebraucht.

 

Facharbeiter mit hohen Anfangsgehältern

 

Überall suchen Unternehmen händeringend nach Facharbeitern, die so begehrt sind, dass sie mit doppelt so hohen Anfangsgehältern wie viele Büroangestellte starten.

Das ist auf den ersten Blick paradox, aber Resultat von Chinas traditioneller Geringschätzung körperlicher Arbeit, einer verfehlten Pekinger Bildungspolitik, die seit 1978 ihren Schwerpunkt auf Wissenschafts- und Universitätsausbildung setzte und den Ausbau der Berufsbildung vernachlässigte. Es ist auch Folge der Einkind-Familien, wo die Eltern es als Versagen werten, wenn ihr Kind es "nur" auf die Berufsschule schafft.

Chengdu, die Provinzhauptstadt von Sichuan, wo Bundeskanzlerin Angela Merkel auf ihrer China-Visite Anfang Juli Zwischenstopp macht und das VW-Werk besucht, setzt auf neue Wege, um die Berufsausbildung zu fördern und attraktiv zu machen.

Dazu gehört auch internationale Kooperation. Volkswagen (VW) betreibt mit der Berufsschule eine eigene Ausbildungshalle, die BASF baut einen großen Schulungskomplex für Fachlackierer, den sie mit Chengdu im September 2013 vereinbarte.

Neben der "Österreich"-Halle steht seit 2013 das "Wiesbaden-Gebäude", ein Pilotausbildungsprojekt für Kfz-Mechaniker und für Facharbeiter zur Bedienung modernster CNC-Werkzeugmaschinen. Chengdu vereinbarte 2012 die Zusammenarbeit mit dem Berufsbildungszentrum der hessischen Stadt. Im mit japanischen CNC-Maschinen und deutschen Pkw-Technologien ausgerüsteten Unterrichtsräumen und Werkstätten arbeiten 13 chinesische Ausbilder nach dem deutschen dualen System.

"Wir halten uns an einen deutschen 12-Punkte-Ausbildungsplan" sagt Liao. Autokonzerne von Hyundai bis VW sponsern die Kfz-Techniker-Ausbildung mit neuesten Wagentypen. Darunter ist sogar wie ein Passat-Cabriolet von Shanghai VW, der noch nicht mal auf dem Markt ist. Liao sagt: Die Lehrlinge, die die von Ausbildern aus Wiesbaden abgenommenen Prüfungen bestehen, "werden uns aus den Händen gerissen".

 

Peking beschließt Neustart in der Ausbildung

 

Nicht nur in Chengdu oder Industrie-Metropolen, die dringend Facharbeiter brauchen, werden die Weichen für die Berufsbildung neu gestellt. Auch Peking ist zu einer grundsätzlichen Kehrtwende bereit. Premier Li Keqiang rief vergangene Woche seinen Staatsrat zusammen, um einen Neustart und qualitative Aufwertung für die Berufsbildung beschließen zu lassen.

Peking zieht die Konsequenz aus dem Ende der Rolle des Landes als billige Werkbank der Welt. Die Nachrichtenagentur Xinhua kommentierte: "China hat auf seine Arbeitskräfte vertraut, um zur Fabrik für die Welt zu werden. Jetzt muss es seine technischen Fähigkeiten erhöhen, um zu einer Innovationswirtschaft zu werden."

Zur erfolgreichen Änderung der alten Wirtschaftsweise in eine binnenmarktorientierte, nachhaltige und moderne Entwicklung fehlen der heute zweitgrößten Volkswirtschaft der Welt an allen Ecken und Enden qualifizierte Anbieter.

In einem 28-Punkte-Beschluss ruft Premier Li nun nach einem Kraftakt, um das Berufsausbildungssystem in den kommenden Jahren "auf Weltniveau" zu bringen.

Schwerpunkte der von Peking verlangten neuen Ausbildung von Fachkräften, die von sechs Ministerien geplant wird, seien moderne Agrarindustrialisierung, Maschinenbau, die strategischen Zukunftsindustrien und moderne Dienstleistungen.

Die Regierung hat in ihrem 12. Fünfjahresplan – gültig von 2011 bis 2016 – jährlich 1,8 Milliarden Euro an Investitionen dafür bereit gestellt, sagte die Vizeministerin für Erziehung Lu Xin.

 

Hohe Abbrecherquoten bei der Berufsschule

 

Peking wird noch mehr investieren müssen. Derzeit gibt es 13.600 normale Berufsschulen mit einer Ausbildung auf niedrigstem Niveau und 1.321 besser ausgestattete höhere Berufsschulen. Auf beiden Typen lernen insgesamt 29,4 Millionen Mittelschüler, die meisten darunter in der normalen Berufsschule.

Hohe Abbrecher- und Aussteigerquoten seien ein Problem, räumte der für Berufsbildung zuständige Ministerialbeamte Ge Daokai auf Nachfrage der "Welt" ein. Peking wolle nun die "Planzahl" an Berufsschülern bis 2020 auf 38,3 Millionen Chinesen anheben, darunter vor allem millionenfach mehr Auszubildende in den höheren Berufsschulen.

Premier Li schockierte die hochschulgläubige Öffentlichkeit, als er sogar vorschlug, eine Reihe allgemeiner Hochschulen in technische Fachhochschulen umzuwandeln. Vizeministerin Lu bestätigte, dass dazu Pläne vorbereitet würden.

 

Seit 30 Jahren lebhafter Austausch mit Deutschland

 

Rückendeckung für die Berufsschule kam auch von Parteichef Xi Jinping, Er eröffnete mit Li und zahlreichen Ministern diese Woche einen zweitägigen Fachkongress zur Zukunft der Berufsschulausbildung in China, ein Zeichen, wie sehr Peking es damit unter den Nägeln brennt. Xi setzte als ehrgeiziges Ziel, dass "die Nation Hunderte Millionen hochkompetenter Arbeiter und befähigter Techniker heranzieht."

Die Signale bedeuten, dass China auch die internationale Zusammenarbeit bei der Berufsbildung künftig intensivieren und die duale Ausbildung standardisieren wird.

Neu ist die Absicht nicht. Im Laufe der Jahre hat China mehr als 600 Kooperationsprojekte zur Berufsausbildung mit mehr als 30 Staaten und Dutzenden internationalen Organisationen abgewickelt.

China schickte mehr als 7.000 Schulleiter und Ausbilder ins Ausland, um von der dortigen Berufsbildung zu lernen. Am "engsten, lebhaftesten und längsten" seit mehr als 30 Jahren sei darunter der Austausch mit Deutschland gewesen.

 

Deutsche Firmen in China suchen Facharbeiter

 

Erfahrung hat das Land genug, nur fehlte bisher der politische Wille sie umzusetzen. Nun aber scheint Peking nach frustrierenden Jahren der Ignoranz gegenüber der Berufsausbildung den Wert von Facharbeitern zu erkennen, ohne die sich weder technische Innovation noch moderne Industriestrukturen entwickeln lassen.

Jörg Wuttke, Kammerpräsident der EU-Wirtschaft in China, begrüßt den neuen Anlauf. Chinas Führung sei sich "sehr bewusst über das Missverhältnis zwischen ihrem verschulten Erziehungssystem und das, was der Markt will." Zudem schrumpfe Chinas Reservoir an jungen Arbeitskräften jährlich um Millionen und verschärfe noch die Knappheiten an ausgebildeten Fachkräften.

Alexandra Voss, Leiterin der deutschen Handelskammer in Peking sagt, dass gut ausgebildete Arbeitskräfte zu finden und zu behalten für die meisten der 2.200 deutschen Unternehmen in China eine ihrer größten Herausforderungen ist.

 

China hat zu viele Akademiker ausgebildet

 

Tatsächlich steht Chinas Akademikerschwemme bei Universitätsstudenten mit den Knappheiten an Fachhochschülern in krassem Missverhältnis. 2013 entließen die 1.321 höheren Berufsschulen nur rund sechs Millionen Facharbeiter. 97,5 Prozent von ihnen fanden sofort Arbeit.

Die Universitäten entließen 2013 fast sieben Millionen Absolventen, von denen nur zwei Drittel einen Arbeitsplatz fanden. Im laufenden Jahr sieht es noch schlimmer aus. Die Agentur Xinhua schrieb, dass selbst in der ökonomisch starken Metropole Shanghai von den dort 178.000 Hochschulabsolventen 2014 rund 80 Prozent nicht wüssten, wo sie Arbeit finden sollten.

Dennoch wollen sich 2014 nach gerade bestandener Hochschulaufnahmeprüfung rund 7,27 Millionen Chinesen im Herbst zum Studium einschreiben, 280.000 mehr als 2013, warnte vergangene Woche der Minister für Personalwesen Yi Weimin.

Für die frisch eingeschriebenen Studenten dürfte es in vier Jahren noch schwerer werden, Arbeit zu finden, als bei dem jetzt entlassenen Graduiertenjahrgang. Doch Facharbeiter bleiben eine gesuchte Spezies, deren Marktwert in China ständig steigt.


Quelle: DIE WELT, 01.07.2014