Durch die Krise wächst in Spanien das Interesse an beruflicher Bildung

Mit einer Reihe von Reformen hat die spanische Regierung seit 2012 auf die Schwächen des Ausbildungssystems reagiert und dabei die praxisnahe berufliche Bildung in den Fokus gerückt. Den Schlusspunkt setzte sie im März 2015 mit einer Reform zur beruflichen Weiterbildung.

Es ist eine sehr dynamische Phase, in der Berufsschulen, Betriebe und Auszubildende eine bedarfsgerechtere Qualifizierung gestalten und erproben. Anschauung liefern deutsche Ausbildungsangebote vor Ort.

Spanien hat die Rezession überwunden und die Wirtschaft könnte 2015 mit 2,8 Prozent doppelt so stark wachsen wie 2014. Von einer Überwindung der Krise aber ist angesichts des von der Gesellschaft am akutesten empfundenen Problems, der hohen Arbeitslosigkeit, noch nicht die Rede. Spanien ist in der Europäischen Union (EU) das Land in dem die meisten Arbeitslosen leben. Im Jahresdurchschnitt 2014 waren es laut Eurostat 5,6 Millionen oder 24,5 Prozent der spanischen Erwerbspersonen. Unter ihnen befanden sich 850.900 junge Menschen zwischen 15 und 24 Jahren, so viele wie in keinem anderen EU-Land.

Bezogen auf die über 1,6 Millionen Erwerbspersonen ihrer Altersgruppe entsprach dies einer Jugendarbeitslosenrate von 53,2 Prozent. Bezieht man den Anteil der Arbeitslosen auf alle Jugendlichen in der Altersgruppe, unter Einschluss der Lernenden und Studierenden, ergibt sich ein Anteil von einem Fünftel (19 Prozent).

Eine wesentliche Ursache für diese Negativentwicklung ist der Anteil früher Schulabgänger (2014: 21,9 Prozent), mit dem Spanien in der EU am schlechtesten dasteht, obwohl sich seit 2006, als es noch 30,3 Prozent waren, viel getan hat. Es handelt sich dabei um diejenigen 18- bis 24jährigen, die höchstens den obligatorischen Abschluss im Sekundarbereich I besitzen (10 Schuljahre) und aktuell an keinen weiterführenden Bildungsangeboten teilnehmen. Zum Vergleich: In Deutschland waren es 9,5 Prozent, im EU-Schnitt 11,1 Prozent.

Die lange Rezession, die zwischen 2008 und 2013 rund 3,7 Millionen Arbeitsplätze vernichtete, hat die Schwächen des Bildungssystems und der Bildungsmentalität in Spanien schonungslos offengelegt.

Dazu zählen eine starke Ausrichtung auf Abitur und Hochschulstudium, der viele Schüler nicht standhalten; unerfreuliche Pisa-Ergebnisse; eine hohe Wiederholungsquote im Vorfeld des frühen Schulabgangs; die Aschenputtel-Rolle beruflicher Bildung; das Fehlen einer praxisorientierten Ausbildung; die von den Unternehmen vernachlässigte Fortbildung.

Nicht zuletzt die dramatische Verdoppelung der Zahl arbeitsloser junger Menschen gab Ende 2012 den Anstoß zu einer Bildungsreform, die die Berufsausbildung generell stärken will und zusätzlich Elemente einer unternehmensbasierten dualen Ausbildung einführte. Anleihen gab es auch bei Deutschland mit seiner langen und gewachsenen Tradition Dualer Ausbildung.

 

Spanien muss praxisnahe Berufsausbildung forcieren

 

Im Frühjahr 2015 hat die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) die Systeme der Beruflichen Bildung in verschiedenen Ländern unter die Lupe genommen.

Im Fall Spaniens fiel das Bild gemischt aus. Positiv wird die Einführung einer grundlegenden Berufsbildung (FP Básica) gewertet, die im Dezember 2013 per Gesetz geregelt wurde. Sie tritt vor die mittlere Berufsausbildung (FP Grado Medio, gehört mit zwei Jahren im Anschluss an die Sekundarstufe I zum Schulsystem) und die höhere Berufsausbildung (FP Grado Superior, folgt nach 12 Schuljahren als Teil der nichtuniversitären höheren Bildung). Die FP Básica gibt auch Menschen ohne Bildungsabschluss, die älter als 17 Jahre sind, die Chance, die mittlere Reife nachzuholen und ihre Einstellbarkeit zu erhöhen.

Die Durchlässigkeit in die folgenden Bildungsstufen wurde ausgebaut. Im ersten Jahr nutzten dem spanischen Bildungsministerium zufolge bereits 34.684 Schüler das Angebot FP Básica.

Auch die OECD lobt die Einführung einer dualen Berufsausbildung (FP Dual) Ende 2012, die Arbeit und Schule verbinde. Sie rät zugleich, die Umsetzung zu forcieren.

Erst wenige spanische Schüler entschieden sich für eine Berufsbildung, und von diesen erhielten noch weniger die Chance, Programme mit arbeitsbasierter Lehre zu besuchen. "Trotz der Anstrengungen, die Kommunikation zwischen Unternehmen und beruflichen Bildungszentren zu erleichtern, ist die arbeitsbasierte Ausbildung nicht so verbreitet, wie sie sein könnte", heißt es in der OECD-Notiz zu Spanien.

Zugleich registrieren die Unternehmen einen Mangel an Fachkräften. Auf der einen Seite gibt es viele gering qualifizierte Erwachsene (3. Quartal 2014: 44 Prozent), auf der anderen sehr viele hochqualifizierte mit tertiärem Abschluss (32 Prozent).

Die mittlere Qualifikationsebene hingegen, unter die auch die Berufsausbildung fällt, ist mit 23 Prozent sehr dünn besetzt. "Es ist eine radikal andere Situation, als die im Rest Europas", so die Staatssekretärin für Bildung, Berufsausbildung und Universitäten, Montserrat Gomendio, bei der Vorstellung der OECD-Ergebnisse im April in Madrid. In Europa sei der Anteil der mittleren Berufsqualifikation mit 47 Prozent doppelt so groß wie in Spanien.

 

Berufliche Bildung als Chance für einen Neuanfang

 

Dieses solide Mittelfeld fehlt dem iberischen Land - als Facharbeiterpool für die Unternehmen, als Wettbewerbsvorteil für das Land, als Marktchance für die Arbeitskräfte selbst. Die gute Nachricht: Das Berufsbildungsangebot wird auf Basis der neuen Gesetze zur Zeit erweitert. Und es wird zunehmend genutzt.

Gegenüber dem Vorkrisenjahrgang 2007/08 und seinen rund 462.500 Schülern in mittlerer oder höherer Berufsausbildung, waren es im Jahrgang 2014/15 gut 793.000. Das entsprach einem Zuwachs um 71 Prozent, wie Zahlen des Ministeriums für Bildung, Kultur und Sport zeigen.

Zugleich sind 62 Prozent der eingeschriebenen Auszubildenden älter, als beim normalen Schulweg zu erwarten wäre. "Das zeigt, dass die FP eine Option zur Rückkehr in die Bildung ist", stellt das Ministerium in einer Meldung fest.

In Spanien treffen gegenwärtig im Bereich der beruflichen Bildung zwei Bewegungen zusammen: Schüler, die ihren normalen schulischen Bildungsweg gehen und eine große Zahl von mehr oder weniger jungen Menschen, die auf der Suche nach verpassten Bildungschancen in das System zurückdrängen. Es dürfte daher noch zu früh sein, um festzustellen, ob die Krise wirklich ein Katalysator für neues Bildungsdenken und wachsendes Ansehen der Berufsausbildung ist.

Traditionell genießt ein Studium größeres Prestige. An den Universitäten waren im Studienjahr 2013/14 über 1,4 Millionen Studenten immatrikuliert.

Exponentiell, weil von äußerst niedriger Basis aus, wächst das Interesse an einer dualen Ausbildung. Das System bildet sich gegenwärtig auf der Ebene der 17 Autonomen Regionen in Abstimmung zwischen Berufsschulen und Unternehmen, die Pioniererfahrung sammeln. Das Modell kann entsprechend variieren.

In den meisten Fällen (2014: 57 Prozent) teilen sich Bildungszentrum und Unternehmen die Ausbildung. Häufig sind die Auszubildenden im ersten Jahr in der Berufsschule, im zweiten dann im Unternehmen. Seit das Gesetz die FP Dual 2012 einführte, hat sich die Zahl der Schüler auf 16.200 fast vervierfacht, die Zahl beteiligter Unternehmen verneunfacht und die der Berufsschulen versechsfacht.

Doch ins Verhältnis gesetzt, erfasst das System erst zwei Prozent der Schüler, die einen beruflichen Bildungsweg eingeschlagen haben. Das Entwicklungspotenzial ist groß, ebenso der Anschauungs- und Beratungsbedarf. So könnten die Unternehmen nach Meinung von Beobachtern noch stärker eingebunden werden - sowohl bei der Entwicklung der Berufsprofile, als auch der Lehrpläne.

Im Wissen um die Vorteile einer guten Berufsausbildung, die Theorie und Praxis verknüpft, haben Niederlassungen deutscher Unternehmen schon seit vielen Jahren Konzepte dualer Ausbildung eingeführt.

Ein Leuchtturmprojekt in dieser Hinsicht sind die dualen Ausbildungsgänge der FEDA German Business School (Formación Empresarial Dual Alemana FEDA) mit Zentren in Madrid und Barcelona.

In den 80er Jahren als Initiative deutscher Firmenniederlassungen und der Auslandshandelskammer (AHK) Spanien geboren, wurden beide Ausbildungszentren bald von der Kultusministerkonferenz als erste unabhängige Auslandsberufsschulen staatlich anerkannt. Als Schulen im Netzwerk der deutschen Auslandsschulen werden sie durch die Bundesrepublik Deutschland unterstützt. Das Land Hessen stellt in Madrid einen Vollzeitlehrer.

Die FEDA hat in der AHK Spanien einen festen Partner und kooperiert mit Dutzenden von Ausbildungsbetrieben, darunter Siemens, Mercedes-Benz, Stihl, Transfesa, Kühne+Nagel, Aldi, Lidl, Lufthansa, Osram, Fronius, Liebherr, Aerzen, AirBerlin, Logwin, HUF, Diesel technic, Knauf.

"Wir leisten sehr viel Überzeugungsarbeit in den Schulen", sagt Bernd Hullerum, Geschäftsführer des Bahnlogistikdienstleister Transfesa und ehrenamtlich im Vorstand der FEDA. "Sicher wird es auch noch eine Zeit dauern, bis bei allen Unternehmen in Spanien die Vorteile der dualen Berufsausbildung als ein echter Wettbewerbsvorteil gesehen werden", meint er, und weist darauf hin, dass auch in Deutschland das System seit seinen Anfängen in den 70er Jahren Zeit gebraucht habe, um die Anerkennung zu finden, die es heute genieße.

 

Ausbildung nach deutschem Lehrplan

 

Bislang stehen bei der FEDA die kaufmännischen Berufe im Vordergrund. In einem Ausbildungsstrang wird die Berufsausbildung zum/zur Industrie- und Speditionskaufmann/-kauffrau angeboten; die Ausbildung findet auf Deutsch statt und baut auf den in Deutschland gültigen Lehrplänen auf. Die deutschen Abschlussprüfungen werden nach zwei Jahren durch die AHK Spanien abgenommen.

Ein zweiter Strang bildet auf Spanisch mit verstärktem Deutschunterricht Verkäufer im Einzelhandel nach dualem Prinzip aus. "Das Interesse ist in den vergangenen Jahren gewachsen, sowohl von Seiten der Medien, als auch von Eltern und Schülern", sagt Susanne Gierth, Direktorin der FEDA in Madrid. "Langsam", so ihr Eindruck, "dringt die Kenntnis der dualen Ausbildung in das Bewusstsein der Menschen."

Gegenwärtig gibt es in Barcelona und Madrid zusammen etwa 200 Schüler. Und die Zahl dürfte wachsen, weil die FEDA nach Sevilla und Alicante expandiert, wo deutsche Partnerunternehmen diese Ausbildung nachfragen. Inhaltlich wird überlegt, eine Ausbildung zum Bank- und Versicherungskaufmann mitaufzunehmen.

Eine Erweiterung hin zu technischen Ausbildungsberufen wird geprüft, die sehr gefragt sind. An die Übernahme von Bildungs- und Mitfinanzierungsverantwortung aus Deutschland gewöhnt, sind die Firmen bereit, die etwa 25.000 Euro zu investieren, die die zweijährige Ausbildung sie kostet (Schulgeld, Ausbildungsvergütung, Sozialversicherung, didaktisches Material).

Große Unternehmen wie Volkswagen (VW) oder SEAT führen eigene Ausbildungszentren. Im März 2015 legte Stihl den Grundstein für ein Ausbildungszentrum in der Region Madrid, in das das Unternehmen 3,5 Millionen Euro investiert.

Auch eine praxisnahe Hochschulausbildung wird von der FEDA angeboten. In Madrid läuft sie über die Europäische Wirtschaftsakademie EWA. Diese kooperiert als ein der Universität Alcalá angeschlossenes Institut mit der Dualen Hochschule Baden-Württemberg. Zweisprachigen Abiturienten bietet sie ein dreijähriges duales Studium der Betriebswirtschaftlehre (BWL) in Kombination mit praktischer Berufsausbildung und Aufenthalten in Spanien wie Deutschland.

In Barcelona läuft der duale Studiengang über das Institut España-Deutschland University Studies EDU. Nach einem dreijährigen Studium wird der akademische Grad eines Bachelor of Arts (BA) der Fachhochschule Südwestfalen erworben.

 

Deutsche Unternehmen mit Vorbildfunktion

 

Dass der Bildungsmarkt durch die Reformen in Bewegung geraten ist, spürt auch die AHK Spanien, die seit vielen Jahren in der grenzüberschreitenden Personalvermittlung und in der beruflichen Aus- und Weiterbildung aktiv ist.

Verstärkt wenden sich spanische und deutsche Unternehmen mit Fragen zur Umsetzung dualer Ausbildung an den Bereich Aus- und Weiterbildung. Ob es um die korrekte Ausbildungsplanung geht, die Führung von Berichtsheften, das Profil der Ausbilder in den Unternehmen - die AHK Spanien berät und schult die Ausbilder. Sie hat Kooperationsabkommen mit den Ausbildungszentren von VW Navarra in Pamplona und SEAT in Martorell abgeschlossen, wo nach deutschem Vorbild dual ausgebildet wird - unter anderem Mechatroniker, Werkzeugmechaniker und Elektroniker mit der Fachrichtung Automatisierungstechnik. Wie bei der FEDA nimmt die AHK Spanien die offiziellen Prüfungen ab und stellt die Abschlusszeugnisse aus.

"Im Jahr 2014 hat die AHK Spanien 141 Auszubildende in 40 verschiedenen Ausbildungsbetrieben in Spanien zertifiziert", berichtet Tanja Nause, die den Bereich Duale Bildung verantwortet. Im April 2014 hat die AHK Spanien ein Berufsbildungsgremium gegründet, bestehend aus Ausbildungsunternehmen und Berufsschulen. Ganz vorn steht dabei die Qualität dualer Aus- und Weiterbildungsmaßnahmen.

Im Rahmen des vom Bundesministeriums für Bildung und Forschung geförderten Projekts VETnet (AHK-Netzwerk für duale Ausbildung und Training) zum Berufsbildungsexport, hat die AHK Spanien neue Projekte in Angriff genommen. So hat sie verschiedene Fachprofile analysiert (Mechatroniker, Kfz-Mechatroniker, Werkzeugmechaniker, Industriemechaniker, Elektroniker) und aus dem Vergleich der spanischen und deutschen Lehrpläne Inhalte für ein drittes Lehrjahr festgelegt.

Im Verbund mit den Ausbildungsunternehmen Siemens, SaarGummi und Aerzen wurde ein Modell 2+1 entwickelt, das an die zwei Jahre der spanischen Ausbildung ein drittes Jahr im Unternehmen anschließt, welches sich von den Inhalten her an deutschen Standards orientiert und mit der deutschen Industrie- und Handelskammer (IHK)-Prüfung abschließt.

Der Geschäftsführer der AHK Spanien, Walther von Plettenberg, ist zuversichtlich, dass der auf zentraler Ebene angestoßene Prozess sich in den autonomen Regionen weiter ausprägen wird: "An einer bedarfsorientierten Qualifizierung führt kein Weg vorbei, und Schritt für Schritt wird die Ausbildung dualer werden, das heißt, in eine Kooperation zwischen Unternehmen und Bildungsinstitutionen hineinwachsen."


Quelle: Germany Trade & Invest GTAI, 21.05.2015