Bulgarien: Wirtschaftsvertreter klagen über praxisfremde Ausbildung

Löhne sind in Bulgarien so niedrig wie nirgendwo sonst in der Europäischen Union (EU). Aus dieser Perspektive gilt der Balkanstaat als interessanter Produktionsstandort. Allerdings ist auch die Arbeitsproduktivität gering. Wirtschaftsvertreter klagen über praxisfremde Ausbildung an Schulen und Universitäten und den daraus folgenden Fach- und Führungskräftemangel.

Deutsche Unternehmen gründen im kleinen Rahmen eigene Berufsschulen. Die Auslandshandelskammer (AHK) Bulgarien engagiert sich im Bereich Aus- und Weiterbildung.

 

Allgemeines zum Arbeitsmarkt

 

Die Verschlechterung der Altersstruktur der Bevölkerung ist die größte Herausforderung für den Arbeitsmarkt in Bulgarien in den nächsten zehn Jahren. Der erhebliche Rückgang der arbeitsfähigen Bevölkerung resultiert nach einer Weltbank-Studie aus der niedrigen Geburtenrate und der Migration. Der Arbeitsmarkt leidet zudem unter unzureichender Ausbildung, fehlender Kompetenz sowie vertieften regionalen Ungleichgewichten.

Über 30 Prozent arbeiten in der "grauen" Wirtschaft. Jeder fünfte Jugendliche in Bulgarien lernt nicht, noch arbeitet er oder bildet sich aus. Das bringt dem Land Verluste von 1,3 Milliarden Lewa (664,7 Millionen Euro; fester Wechselkurs der bulgarischen Nationalbank 1 Euro = 1,95583 Lewa) jährlich. Dies ist ein Ergebnis einer UNICEF-Studie über den Anteil der Gruppe Jugendlicher und junger Erwachsener, die keine Schule besuchen, keiner Arbeit nachgehen und sich nicht in beruflicher Ausbildung befinden und dies auch nicht unmittelbar anstreben (NEETs: Not in Education, Employment or Training). Ende 2014 fielen von insgesamt 750.000 Menschen im Alter von 15 bis 24 Jahren 170.000 beziehungsweise knapp 23 Prozent in diese Kategorie.

Der bulgarische Sozialminister, Ivailo Kalfin, hat das als ein ernsthaftes Problem für den bulgarischen Arbeitsmarkt bezeichnet. Als Hauptursache gilt die fehlende Motivation.

Nach Angaben der europäischen Statistikbehörde Eurostat suchen 257.000 Menschen oder 7,6 Prozent der erwerbsfähigen Bevölkerung zwischen 15 und 65 Jahren keinen Job. Auf der anderen Seite steigt die Attraktivität des bulgarischen Arbeitsmarktes für höher qualifizierte Ausländer nicht nur wegen der niedrigen Steuern und Preise, sondern auch aufgrund des erfreulichen gesellschaftlichen Lebens und der attraktiven Naturgegebenheiten des Landes. Besonders stark ist das Interesse aus Deutschland, Holland, Spanien und Italien.

Der Fachkräftemangel bildet die größte Herausforderung besonders für die Informationstechnologie (IT)-Branche. Immer häufiger sind Unternehmen mit einer Knappheit an IT-Fachleuten konfrontiert. Dabei steigt die Zahl der neuen offenen Stellen konstant. Um Positionen zum Beispiel für Softwarearchitekten und -entwickler oder IT-Berater zu besetzen, benötigen die Firmen bisweilen über zehn Wochen. Eine Möglichkeit zur Lösung des Problems des Fachkräftemangels bildet die Erteilung von so genannten "blue cards" für ausländische (außerhalb der EU) IT-Spezialisten in Bulgarien.

Zumindest unausgebildete Mitarbeiter sind aufgrund der weiterhin hohen Arbeitslosigkeit deutlich leichter zu finden als in den Boomjahren vor der Krise.

Die Arbeitslosenquote betrug nach Angaben des Nationalen Statistikinstituts (NSI) im 1. Quartal 2015 genau 10,6 Prozent. Sie lag damit etwas niedriger als im gleichen Vorjahreszeitraum (1. Quartal 2014: 13,0 Prozent). Die Beschäftigungsquote der Bevölkerung zwischen 20 und 65 Jahren belief sich im 1. Quartal 2015 (2014) auf 65 (63) Prozent. Das Ziel in der Strategie "Europa 2020" lautet 75 Prozent.

Das Operationelle Programm (OP) "Entwicklung der Humanressourcen" bietet in der EU-Förderperiode 2014 bis 2020 zur Verbesserung des Zugangs zu Beschäftigung und der Qualität der Arbeitsplätze 559 Millionen Euro, davon 110 Millionen Euro aus der Beschäftigungsinitiative für junge Menschen.

Das instabile und schwer vorhersehbare wirtschaftliche Umfeld lässt die Unternehmen bei der Beschäftigungsplanung nur vorsichtig agieren. Das wenn auch nur schwache Wirtschaftswachstum wirkt sich damit kaum in die Schaffung neuer Arbeitsplätze aus. Demografische und Migrationsprozesse haben in den vergangenen zehn Jahren zu einem weiteren Auseinanderdriften der Regionen geführt.

Die Suche nach gut ausgebildetem Personal und Führungskräften, die nach westlichen Prinzipien arbeiten, gestaltet sich trotz der hohen Arbeitslosigkeit weiterhin schwierig.

Ausländische Unternehmen klagen darüber, dass Mitarbeiter kaum selbstständig arbeiten und nur wenig mitdenken. Teamfähigkeit ist nicht selbstverständlich und muss bisweilen gefördert beziehungsweise trainiert werden.

Nach Angaben von Eurostat lag der Anteil der bulgarischen Industrieunternehmen, die an Fachkräftemangel leiden, im Jahr 2014 bei 15,2 Prozent. Insbesondere deutsche Unternehmen versuchen, das Fachkräfteproblem mit eigener innerbetrieblicher Ausbildung zu lösen.

Initiativen und zum Teil eigene kleine Berufsschulen gibt es beispielsweise bei den Unternehmen Liebherr Hausgeräte, Pirin Tex, Balkan Star und Lufthansa. Auch die AHK Bulgarien ist verstärkt bemüht, Elemente aus dem deutschen dualen Berufsausbildungssystem in Bulgarien zu fördern.

Zum 1.1.15 hat die AHK Bulgarien das Cluster Duale Berufsausbildung ins Leben gerufen. Eine Aufgabe des Clusters besteht darin, dessen Zielgruppe, das heißt ausbildungswillige Firmen zum Thema duale Berufsausbildung zu beraten und erste Pilotausbildungsgänge auf den Weg zu bringen.

Im kaufmännischen Bereich ist dies vorerst der Ausbildungsberuf zum Kaufmann/-frau für Büromanagement, an dem sich Unternehmen wie Penny Market Bulgaria EOOD, Pirin-Tex EOOD und Regiocom GmbH beteiligen.

Mitarbeiter der AHK kümmern sich um die Projektsteuerung, um gemeinsam mit den Ausbildungsbetrieben, Bildungseinrichtungen, öffentlichen Stellen und weiteren Partnern praktikable Lösungen im Bereich der dualen Ausbildung zu erarbeiten. Das zunächst auf zwei Jahre angelegte Projekt wird methodologisch vom Deutschen Industrie- und Handelskammertag (DIHK) unterstützt.

Für den allgemeinen Fachkräftemangel gibt es mehrere Ursachen. Der Hauptgrund ist das Bildungssystem, das schon lange nicht mehr so gut ist wie sein früherer Ruf.

Berufsschulen nach deutschem Muster gibt es nicht. Stattdessen sind vor allem so genannte Berufsgymnasien verbreitet. Kritisiert werden diese Bildungseinrichtungen, weil sie theoretisch ausgerichtet sind, keine Anbindung an Unternehmen haben und nur über eine völlig veraltete Ausstattung verfügen.

Den meisten Bulgaren ist eine duale Berufsbildung nach dem deutschen Muster (also eine verzahnte Ausbildung an einer Berufsschule und in einem Unternehmen, inklusive Ausbildungsplan, Prüfung, Zertifikat, Ausbildungsvergütung) nicht einmal in der Theorie bekannt. Stattdessen beginnt ein sehr hoher Anteil der jungen Bulgaren nach der Schulausbildung ein (weniger praktisches) Studium an einer Universität. Das früher einmal große Interesse an einem Studium im Bereich Ingenieurwissenschaften hat mit der politischen Wende 1989/90 in Bulgarien allerdings deutlich nachgelassen.

Viele junge Bulgaren gehen für ein Studium ins Ausland, wo sie nicht selten im Anschluss an das Studium bleiben. Deutschland ist bei bulgarischen Studenten als Studienstandort besonders beliebt. Etwa die Hälfte der bulgarischen Schulabsolventen bewirbt sich für ein Studium in Deutschland.

Rund 20 Prozent der Hochschulabsolventen verlassen Bulgarien jedes Jahr und finden einen Job im Ausland. Darunter sind junge Menschen mit einer medizinischen Ausbildung, IT- Absolventen und Ingenieure. Für deutsche Unternehmen auf der Suche nach bulgarischen Fachkräften kann es in Einzelfällen daher sogar Sinn machen, auf deutschen Absolventenkongressen oder an deutschen Universitäten nach bulgarischen Akademikern zu suchen.

Bulgarische Fachkräfte sprechen in der Regel eine gängige europäische Fremdsprache. Dies ist heutzutage in erster Linie Englisch. Rund 10 Prozent der Bevölkerung sollen sich auf Deutsch verständigen können. An der bulgarischen Schwarzmeerküste, wo der Tourismus eine bedeutende Rolle spielt, liegt der Anteil der deutschsprechenden Bevölkerung deutlich höher. Russisch sollten zwar alle Bulgaren aufgrund der Ähnlichkeit zur bulgarischen Sprache verstehen. Über gute aktive Russischkenntnisse verfügen in der Regel aber nur noch die heute über Vierzigjährigen. Die guten Fremdsprachenkenntnisse der Bevölkerung kombiniert mit dem geringen Lohnniveau machen den Balkanstaat zu einem attraktiven Outsourcingstandort (Kundenservicecenter, Callcenter, IT-Dienstleistungen und so weiter).

 

Hinweis:

 

Es handelt sich hier um einen Auszug aus dem Artikel "Lohn- und Lohnnebenkosten - Bulgarien" von Germany Trade and Invest GTAI. Der vollständige Artikel enthält zum Beispiel viele Links rund um Ausbildung und Arbeitsmarkt.


Quelle: Germany Trade & Invest GTAI, gtai.de, 23.07.2015