Myanmars Bildungssystem: Die Aufholjagd beginnt auf der Schulbank

Jahrzehnte der Militärdiktatur haben Myanmars Bildungssystem zugrunde gerichtet. Nun, da das Land sich im Aufbruch befindet, fehlt es überall an Fachkräften. Die Regierung agiert zögerlich.

Der Schritt durch das große Eisentor an einer Ausfallstrasse von Mandalay ist der Schritt in eine andere Welt. Draussen Verkehrslärm, drinnen helle Kinderstimmen – sie geben den Ton an. Rund 8.000 Knaben und Mädchen gehen hier zur Schule, vom Kindergarten bis zum Gymnasium. Etwa 1.000 von ihnen leben auf dem weitläufigen Gelände. Jetzt, am späten Nachmittag, ist für die meisten der Unterricht vorbei.

Auf dem staubigen Fussballplatz jagen zwei Dutzend Jungen barfüssig einem Ball nach. Ihre langen, dunkelroten Mönchskutten haben sie hochgezogen und um die Hüften gewickelt. Vor einem der Schulgebäude spielen ein paar andere Pingpong. Eine Gruppe von Mädchen sitzt vor ihrem Wohnhaus, sie plaudern und kichern.

 

Jahrelange Gratwanderung

 

"Manche Leute sagen, meine Schüler seien unanständig, weil sie so laut sind", sagt U Nayaka und lacht verschmitzt. "Doch mir gefällt das." Die Klosterschule Phaung Daw Oo ist das Lebenswerk des 65-Jährigen. Vor mehr als 20 Jahren hat der buddhistische Mönch sie zusammen mit seinem Bruder gegründet. Die erste Generation von Schülern, schon 1994 waren es 400, wurde von 10 Lehrern unter freiem Himmel unterrichtet. Heute stehen auf dem Gelände grosse Betongebäude, in denen nicht nur Schulzimmer, sondern auch Schlafsäle, eine eigene Klinik und eine Bibliothek untergebracht sind.

Phaung Daw Oo ist eine private Schule, und dass sie in den vergangenen zwei Jahrzehnten stetig wachsen konnte, ist nicht selbstverständlich. Während der Militärdiktatur waren private Bildungseinrichtungen verboten. U Nayaka erhielt 1993 dennoch die Bewilligung, eine Schule zu eröffnen.

In den Jahren danach hat er gelernt, was es heisst, auf dem Grat zwischen Repression und Anpassung zu balancieren. Unter dem früheren Diktator Than Shwe sei die Beziehung zur Regierung schwierig gewesen, sagt U Nayaka. Inzwischen habe sich das Verhältnis entspannt. Ein bisschen aufpassen müsse er aber immer noch, sagt er und lacht einmal mehr laut und herzlich.

Phaung Daw Oo unterscheidet sich in mancher Hinsicht von anderen Schulen im Land. Nicht nur, dass der Unterricht für alle Schüler kostenlos ist, auch, dass hier sowohl Novizinnen und Novizen wie auch "normale" Schüler ausgebildet werden, ist außergewöhnlich. Ausserdem will U Nayaka, dass seine Schüler lernen, frei und kritisch zu denken.

Das Bildungssystem in Myanmar sei darauf ausgelegt, dass die Kinder vor allem auswendig lernten – der Abt spricht von einem "narrow message education System". Er macht sich Sorgen, wenn er an die Zukunft seines Landes denkt: Schliesslich sei gerade gute Bildung wichtig für den Aufbau einer Demokratie, sagt er. Über die Jahre ist es ihm gelungen, ein breites Netz an ausländischen Spendern zu gewinnen.

Dass die Kinder aus dem ganzen Land in U Nayakas Schule kommen, hat nicht nur damit zu tun, dass Kinder aus armen Familien Bildung, Unterkunft und Essen kostenlos bekommen können. Die Strahlkraft von Phaung Daw Oo ist auch deshalb so gross, weil das myanmarische Bildungssystem in einem schlechten Zustand ist.

Kurz nach der Unabhängigkeit von den Briten galt das myanmarische Bildungssystem in Südostasien als fortschrittlich. Doch der wirtschaftliche Niedergang, den das Land während der Diktatur erlebte, schlug auf die Schulzimmer durch. Der Anteil der Bildungsausgaben am Bruttoinlandprodukt ging über die Jahre zurück und lag im Jahr 2000 laut der Organisation für wirtschaftliche Entwicklung und Zusammenarbeit (OECD) bei nur 0,5 Prozent. Dazu kam die Paranoia der Generäle.

Private Bildungsinstitutionen sowie Klosterschulen wurden von der Regierung bereits in den sechziger Jahren verboten; Universitäten blieben bisweilen über Jahre geschlossen. Mit der Öffnung des Landes hat sich deren Lage zwar entspannt; doch für die meisten Kinder bleibt private Bildung oder auch die Universität ausser Reichweite.

Obwohl Einschulungsquote und Alphabetisierungsrate in Myanmar relativ hoch sind, beenden mehr als 30 Prozent der Kinder die Grundschule nicht. Das hat vor allem finanzielle Gründe: Auch in staatlichen Schulen müssen Uniform und Bücher gekauft werden, und oft sind die Familien darauf angewiesen, dass auch die Kinder Geld verdienen oder zu Hause mithelfen. In staatlichen Schulen betreut ein Lehrer manchmal bis zu 80 Schüler, meist ist die Lehrperson nicht nur ungenügend ausgebildet, sondern auch schlecht bezahlt.

Auch wenn die OECD in den letzten Jahren Fortschritte festgestellt hat, ist die Situation immer noch schlechter als in den Nachbarländern. Die sogenannten Asean+6-Länder investierten zwischen 2007 und 2010 im Durchschnitt 4 Prozent des Bruttoinlandprodukts in die Bildung; Myanmar bildete mit 0,8 Prozent das Schlusslicht.

U Nayaka spricht von einem grossen Stadt-Land-Gefälle: Rund 70 Prozent der Leute lebten auf dem Land und seien ungebildet. Die übrigen 30 Prozent hätten zwar eine Ausbildung, die aber schlecht sei.

 

Geduld für Ausbildung fehlt

 

Aung Thura weiss, was das für den Arbeitsmarkt bedeutet. Der Schweizer mit myanmarischen Wurzeln, der seit dreieinhalb Jahren in Myanmar Beratungsdienste anbietet, erzählt von einem Konkurrenzkampf unter ausländischen Unternehmen und internationalen Organisationen um gut ausgebildete lokale Mitarbeiter.

Die Gehälter für qualifizierte Mitarbeiter seien innerhalb des letzten Jahres auf das Doppelte oder gar das Dreifache gestiegen. Wenn man als Firma nicht nachziehe, sei die Fluktuation hoch. Studiengang, Diplome und Noten spielen für Aung Thura bei der Auswahl eines Mitarbeiters eine weniger wichtige Rolle. Mehr zählten Berufserfahrung, Integrität und Motivation. So ist einer seiner besten Mitarbeiter ein ausgebildeter Zahnarzt.

Dass es in Myanmar für viele Berufe keine Ausbildung gibt, hat Max Wey schon in den neunziger Jahren festgestellt. Der ehemalige Delegierte des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz kam 1993 erstmals nach Myanmar, wo er sich um den Aufbau eines HIV-Präventions-Zentrums kümmerte.

Der ehemalige Lehrer fragte sich, wie es in einem Land mit so viel Holz möglich sei, dass es keine Ausbildung in holzverarbeitenden Berufen gebe. Auf eigene Initiative und ohne Registrierung begann er, einen Lehrgang für Schreiner aufzubauen. 2002 startete der erste Jahrgang mit 30 Lehrlingen.

Aus dem Center for Vocational Training (CVT), das vom Regime "knapp akzeptiert" war, ist heute eine Bildungsinstitution geworden, die "hoch nachgefragt" ist, wie der Entwicklungsleiter Stefan Vogler sagt.

Längst ist der Raum in dem Gebäude des Roten Kreuzes mitten in "Downtown" Rangun zu knapp geworden, um die 500 Lehrlinge je einen Tag in der Woche zu unterrichten. So müssen einige von ihnen am Samstag zur Schule kommen.

Konzentriert hören die angehenden kaufmännischen Angestellten der Lehrerin zu, die ihnen die Grundlagen der Buchhaltung erklärt. Ein Stockwerk tiefer lernen Gastronomieassistenten, wie man Lebensmittel sicher verarbeitet und aufbewahrt. Auch Metallarbeiter und Elektriker werden am CVT ausgebildet; den Schreinerlehrgang gibt es immer noch. Für die Lehrlinge ist die Ausbildung kostenlos, der Lehrbetrieb bezahlt neben einer Einschreibegebühr im Jahr 100 Dollar pro Lehrling. Die duale Ausbildung, die an das Schweizer Modell angelehnt und in Myanmar noch immer einzigartig ist, dauert drei Jahre.

Das sei für viele zu lange, sagt die Schuldirektorin der Yin Yin Aye, und zwar weniger für die Schüler als für die Firmen: Ihnen fehle die Geduld und manchmal die Weitsicht, gleich mehrere Jahre in die Ausbildung eines Mitarbeiters zu investieren, erläutert die quirlige Frau in ihrem Büro.

Das brauche viel Überzeugungsarbeit. Eher als Lehrlinge – die Nachfrage nach Ausbildungsplätzen nimmt von Jahr zu Jahr zu – müssen die Mitarbeiter des CVT geeignete Lehrbetriebe suchen. Stefan Vogler nennt das "Missionsarbeit".

Die Mitarbeiter des CVT besuchen dazu rund 200 Firmen im Jahr, um immer wieder einige davon zu überzeugen, junge Leute auszubilden. Die Unternehmen täten alles, um gut qualifizierte Mitarbeiter zu bekommen – nur das Bewusstsein, dass dies Zeit brauche, sei noch nicht da. Dabei sei der Mangel an Fachkräften eine Investitions-, aber auch eine Entwicklungsbremse, sagt Vogler.

 

Boom der Privatschulen

 

Das CVT ist mit der Öffnung aus seinem Schattendasein herausgetreten. Seit zwei Jahren ist die Schule als internationale Nichtregierungsorganisation (NGO) registriert. Mit den Behörden pflege man, so die Verantwortlichen, eine gute Zusammenarbeit.

So hat das Arbeitsministerium der CVT ein Gelände zur Verfügung gestellt, auf dem derzeit ein neues Schulhaus gebaut wird. Werkstätten und Schulzimmer, die an verschiedenen Ecken der Stadt liegen, sollen dort unter einem Dach untergebracht werden, auch für die Weiterbildungskurse, die das CVT inzwischen noch anbietet, etwa für Jungunternehmer, Fachinstruktoren oder Lehrmeister. Im Neubau sollen bis 2019 rund 1000 Schüler unterrichtet werden können.

Vogler weist aber darauf hin, dass es mit dem Platz allein nicht getan sei. Auch finanziell und organisatorisch stehe man vor grossen Herausforderungen, obwohl die Weiterentwicklung der Schule seit zwei Jahren von der Schweizer Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit (Deaz) unterstützt werde.

Die Direktorin Yin Yin Aye erzählt, dass es schwierig sei, gute Lehrkräfte zu finden. Das CVT zahlt zwar überdurchschnittliche Gehälter, doch mit den Salären, die private Schulen bieten, kann die NGO nicht mithalten. Zudem ist der Lehrermangel auch eine Folge der jahrzehntelangen Vernachlässigung des Bildungssektors. Er hat ganze Generationen geprägt.

Der myanmarische Staat, durch Jahrzehnte der Isolation und Misswirtschaft finanziell ausgeblutet, wendet inzwischen zwar etwas mehr für Bildung auf. Bis sich dies allenfalls bemerkbar macht, werden aber Jahre vergehen.

Derweil boomen private Schulen. Seit dem Schuljahr 2012 sind sie offiziell zugelassen, landesweit gibt es bisher 160. Für 2016 haben sich allein in Rangun 150 Betreiber um eine Lizenz beworben. Wer es sich leisten kann, der geht jedoch weiter – nach Singapur, Thailand oder Australien.


Quelle: Neue Zürcher Zeitung, nzz.ch, 31.12.2015