Lettland: "Berlin quasi um die Ecke"

Wie andere strukturschwache Staaten der Europäischen Union (EU) auch laviert das heutige Lettland an einer hohen Abwanderung. Als ein Mittel zur Sicherung des Arbeitspotenzials der Verbliebenen hat Riga die duale Ausbildung identifziert.

Lettland hat erkannt, dass es mit kapital- und arbeitsintensiven Industrien kein Land sieht. Stattdessen setzt das Zwei-Millionen-Einwohnerland, ähnlich dem Nachbar Estland auf Digitales und Greentech, auf Kultur, Design und Tourismus. Geschickt vermarktet es seine diesbezüglichen, natürlichen Reize.

Musik genießt in Lettland einen besonders hohen Stellenwert. Zehntausende kommen Jahr für Jahr auf den Liederfesten zusammen, um gemeinsam traditionelle Volkslieder zu singen – ein Schlüsselelement der nationalen Identitätsbildung, meinen Kulturforscher. Auch auf einem Botschaftsempfang in Berlin lässt es sich der lettische Handelsattaché nicht nehmen, den Gästen vollendet auf der Klarinette vorzuspielen.

Lettland, die zweitkleinste der baltischen Republiken, hat Investoren weit mehr zu bieten als die Jugendstilfassaden Rigas, weiße Ostseestrände und unberührte Natur, erklärt der Diplomat und ausgebildete Klarinettist Helmuts Salnājs. Der für dieses Jahr angekündigte Beitritt zur Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) sei ein Beleg dafür, dass Lettland höchste Standards in Wirtschaftsklima, Rechtssicherheit und Compliance erfülle.

Seit wenigen Tagen hat Lettland ein neues Kabinett. Das Saeima, das Parlament, bestätigte unter anderem den 55-jährigen Politiker der Partei der "Bauern und Grünen", Māris Kučinski als neuen Premierminister. Neue Finanzministerin ist Dana Reizniece-Ozola. Der neue Wirtschaftsminister heißt Arvils Ašeradens.

 

Botschafterin gibt wirtschaftspolitischen Ausblick

 

Langfristig wolle die Regierung die Wirtschaftsleistung pro Kopf auf den EU-Durchschnitt von rund 26.000 Euro anheben. Der Durchschnittsverbraucher, der in Lettland Jānis Bērziņš (Johannes Birke) heißt, erwirtschaftet bislang 12.040 Euro. 2015 wuchs die lettische Wirtschaft um 2,4 Prozent – lediglich ausgebremst durch die schwache Nachfrage aus Russland, dem hinter Litauen zweitwichtigsten Handelspartner.

Daneben verfolgt das Land weiterhin auch die digitale Agenda, die es bereits während seiner EU-Ratspräsidentschaft im ersten Halbjahr 2015 hatte – Aspekte wie ein europaweit einheitlicher Binnenmarkt sowie digitale Sicherheit seien auch für die deutsche Industrieziele "4.0" eine wichtige Voraussetzung, sagte Botschafterin Elita Kuzma.

 

25 Jahre Wiederherstellung der Unabhängigkeit

 

2016 jährt sich zum 25. Mal "die Wiederherstellung der Unabhängigkeit" Lettlands und die Wiederaufnahme der diplomatischen Beziehungen mit Deutschland, ruft Botschafterin Elita Kuzma in Erinnerung. Auf der europäischen Politikbühne habe Lettland ein festes Engagement.

Auch wenn Lettland und andere östliche EU-Staaten zuletzt für ihre ablehnende oder zumindest zurückhaltende Haltung in der gegenwärtigen Migrationskrise kritisiert worden waren, komme das Land seinen Verpflichtungen innerhalb der Union im Rahmen seiner Möglichkeiten nach.

Die Botschafterin sagte weiter, dass die nach wie vor schwelende Finanzkrise gegenüber den beiden erstgenannten Krisen in das mediale und politische Hintertreffen geraten. Nach dem Ausbruch der internationalen Banken- und Finanzenkrise im Jahr 2008 war es für Lettland "genauso schnell nach unten" gegangen, wie nach dem EU-Beitritt 2004 nach oben.

 

Auf Investorensuche

 

Wirtschaftspolitisch will Riga nun wieder in soziale Infrastrukturen wie Schulen und Krankenhäuser zu investieren – gerade in diesen Bereiche war in den Jahren nach der Finanzmarktkrise 2008 der Rotstift scharf gespitzt worden.

Als besonders zukunftsfähige Branchen gelten nach offiziellen Angaben vor allem die Holz- und Ernährungswirtschaft, Verkehr und Logistik sowie der Tourismus – jeweils unter dem Aspekt einer möglichst umweltverträglichen und zugleich digitalisierten Wirtschaftens.

Allein für das Politikfeld "Wettbewerb und Innovationen" stehen Lettland – ergo den dort tätigen in- und ausländischen Unternehmen – bis 2020 rund 760 Millionen Euro an EU-Fördergeldern zur Verfügung. Investoren sind selbstverständlich herzlich willkommen. Ihnen steht über Gremien und Runde Tische ein direkter Kommunikationskanal zur Politik offen. Zudem wirbt das Land mit einfachen Steuergesetzen: "Das gesamte lettische Steuergesetz entspricht der Summe der jährlichen Änderungen im deutschen", vergleicht Salnājs.

Dieser Agentur, vor einigen Jahren aus Hamburg nach Berlin verlegt, wurde jüngst das Tourimus-Marketing übertragen. Ihre Arbeit scheint hierzulande zu fruchten, denn in den vergangenen Jahren stellten Deutschland die mit Abstand größter Besuchergruppe des Landes, in dem die architektonischen oder mentalen Spuren der bis 1939/40 ansässigen deutsch-baltischen Ober- und Mittelschicht bis heute unverkennbar sind.

Wie andere strukturschwache EU-Staaten auch laviert das heutige Lettland an einer hohen Abwanderung. Als ein Mittel zur Sicherung des Arbeitspotenzials der Verbliebenen hat Riga die duale Ausbildung identifziert. Seit 2013 unterstützt die Deutsch-Baltische Handelskammer über das Projekt "VETnet" lettische Initiativen in der Berufsbildung. So gibt es ein Holzwirtschaft eine Kooperation mit Bayern. Im April dieses Jahres wird eine Delegation des Freistaats die Ergebnisse dieser Kooperation in Augenschein nehmen.

Fortgesetzt werden auch die Arbeiten an der Rail Baltica. Diese Strecke soll "ungefähr" ab 2030 die baltischen Hauptstädte mit Mitteleuropa verbinden, erinnert Salnājs. Ein Trasse in Richtung Zentralasien soll schon eher fertiggestellt sein: Dafür hat die Thales GmbH für den neuen Rangierbahnhof in der lettischen Hafenstadt Liepāja – gemeinsam mit zwei russischen Unternehmen – für rund 25 Millionen Euro ein Stellwerk geplant und errichtet.

In Lettland hat das baden-württembergische Bahntechnikunternehmen insgesamt bereits 32 Stellwerke installiert, berichtet Planungsingenieurin Kerstin Kretschmer. Stellwerke dienen der Überwachung und Steuerung des Zugverkehrs auf bestimmten Gleisabschnitten.

 

Investor muss nicht immer der Konzern sein

 

Bei der Berliner Assecor GmbH ist das Wirken der Investitionsförderer auf offene Ohren gestoßen. Die vor zehn Jahren gegründete Informationstechnologie (IT)-Beratung, laut Mit-Geschäftsleiter Michael Grünewald auf das Management kritischer Infrastrukturen spezialisiert, eröffnete im Sommer 2015 in Riga ein Softwareentwicklungszentrum. Von dort erarbeiten derzeit fünf Programmierer IT-Lösungen für Bestandskunden, darunter die Deutsche Bahn, BVG und Vattenfall.

"Die Wahl fiel auf Lettland, weil sich unsere Kulturen doch sehr stark ähneln", erklärt Grünfelder. Da "Berlin quasi um die Ecke ist" könne man noch nicht einmal vom Near-shoring sprechen. Die Niederlassung in der lettischen Hauptstadt stecke derzeit "noch in den Kinderschuhen". Langfristig hofft man auf Aufträge aus Lettland selbst.


Quelle: OWC-Verlag für Außenwirtschaft GmbH, owc.de, 15.02.2016