Mitarbeitermangel in China: Hölle der Personalchefs

Es ist eine Schattenseite des Booms: Unternehmen in China kämpfen mit rasanter Mitarbeiterfluktuation. Zu groß ist die Zahl der freien Stellen, zu niedrig die der qualifizierten Mitarbeiter. Die Konzernlenker müssen mit hohen Gehältern locken - was das Wachstum der Volksrepublik bedrohen könnte.

 

 

Bei Wacker Greater China ist man hochzufrieden. Innerhalb eines Jahres haben 15 Prozent aller Mitarbeiter das Unternehmen verlassen. In Deutschland wäre eine derart hohe Fluktuationsrate ein Krisensignal. In China gilt sie als Erfolg. "Das ist im Vergleich zu anderen Firmen in China ein sehr guter Wert", sagt Rebecca Liu.

 

Als die 39-Jährige vor neun Jahren bei der chinesischen Tochtergesellschaft des Chemieunternehmens Wacker als Personalmanagerin anfing, hatte das Unternehmen 50 Mitarbeiter in China. Heute sind es über 800. Von ihrem Büro im 31. Stock des Bank of China Towers blickt die zierliche Frau auf die Hochhausschluchten von Pudong, dem Geschäftsviertel der chinesischen Metropole Shanghai. Vor drei Jahrzehnten gab es hier nichts als Reisfelder. Nun liegt das Wirtschaftswachstum in diesem Teil der Stadt bereits seit Jahren im zweistelligen Bereich. Wer in China etwas erreichen will, kommt nach Pudong.

 

Doch es kommen zu wenige. In Chinas Unternehmen herrscht akuter Fachkräftemangel. Längst ist ein erbitterter "War for Talent" entbrannt, ein Wettstreit der Unternehmen um die besten Arbeitnehmer. Die Jagd nach klugen Köpfen führt zu einer extrem hohen Fluktuation. Während ein Arbeitnehmer in Deutschland im Schnitt 10,8 Jahre bei einer Firma arbeitet, sind es in Asien nur fünf Jahre. Für Betriebe ist das ein großes Problem: Neun von zehn in China tätigen Unternehmen antworteten auf die Frage, was die größte Herausforderung des nächsten Jahres sei, an erster Stelle: Qualifiziertes Personal zu finden.

 

Zwar gibt es in China Millionen von Wanderarbeitern, die bereitwillig jede Arbeit verrichten und dafür kaum mehr als 350 Euro im Monat erhalten. Doch an ausgebildeten Fachkräften mangelt es. Gerade deutsche Unternehmen, die auf hochqualifizierte Arbeitnehmer angewiesen sind, leiden darunter.

 

"Ständig müssen Mitarbeiter neu eingearbeitet werden"

 

"In manchen Branchen, wie der Automobilindustrie oder der Informationstechnologie, liegt die Fluktuationsrate sogar bei 30 Prozent", sagt Rolf Köhler, Vorstandsmitglieder der Deutschen Handelskammer in Shanghai. Oft würden aus Mangel an Personal zunächst alle Interessenten eingestellt und erst nach Wochen bewertet. "Allein der organisatorische Aufwand ist riesig, doch der wirkliche Verlust ist noch höher: Ständig müssen Mitarbeiter neu eingearbeitet werden. Das hemmt die Produktivität."

 

30 Prozent Fluktuationsrate bedeuten: Im Schnitt muss ein Unternehmen seine Belegschaft alle 40 Monate komplett ersetzen. Erschwerend hinzu kommt, dass die Kündigungsfrist in China zwischen einer Woche und einem Monat liegt - nachdem Mitarbeiter gekündigt haben, sind sie auch binnen weniger Tage tatsächlich weg. Köhler hat schon von Fällen gehört, in denen deutsche Unternehmen kurzfristig Fachkräfte aus dem Hochlohnland Deutschland einfliegen mussten, um die Produktion aufrecht zu erhalten.

 

Der Fachkräftemangel hat noch eine andere Folge: Zweistellige jährliche Lohn- und Gehaltssteigerungen sind in China normal. "Die Nachfrage nach Arbeitskräften treibt zunächst die Löhne und dann die Preise nach oben", sagt Köhler. Das kann volkswirtschaftlich negative Effekte haben und sogar das Wachstum abwürgen - nämlich dann, wenn es zu einer Lohn-Preisspirale kommt.

 

Das bedeutet: Die Unternehmen wälzen die entstandenen Mehrkosten auf die Preise ihrer Produkte um. Als Reaktion fordern Gewerkschaften daraufhin wieder höhere Gehälter. Diese Spirale beginnt sich zu drehen, die Inflationsrate steigt. Im Februar war die chinesische Inflationsrate zwar auf ein 20-Monatstief gesunken. Doch das könnte sich bald wieder ändern - denn der demografische Wandel verschärft den Arbeitskräftemangel in China zusätzlich.

 

Es gibt zu wenig neue Arbeitskräfte

 

Seit einigen Jahren zeigen sich die Folgen der Ein-Kind-Politik: Schon jetzt sei der Peak an jungen Berufsanfängern erreicht, so eine Studie der Unternehmensberatung Kienbaum. In Zukunft werden es immer weniger. Rolf Köhler wünscht sich deswegen von der chinesischen Regierung vor allem ein verbessertes Ausbildungssystem: "Eine solide, sozial anerkannte Fachkräfteausbildung - wie das duale System in Deutschland - würde China deutlich weiterbringen." Noch immer klaffe eine große Qualifikationslücke zwischen Universitätsabsolventen und ungelernten Billigarbeitern.

 

Immer höhere Gehälter genügen längst nicht mehr, um die begehrten Fachkräfte im Unternehmen zu halten. Köhler nennt als Anreize Weiterbildungsmöglichkeiten, schnelle Karrierewege und konstruktives Feedback. Dass nicht in erster Linie das Gehalt den Ausschlag gibt, ob ein Mitarbeiter im Unternehmen bleibt oder nicht, legt auch die Kienbaum-Studie nahe: Für die meisten Mitarbeitern in China seien Arbeitsklima, Image der Firma und transparente Karrierechancen wichtiger als die Höhe des Jahresgehalts.

 

Darin unterscheiden sich chinesische Arbeitnehmer wiederum nicht von deutschen. Laut einer Umfrage der Bertelsmann-Stiftung und der Krankenkasse Barmer gaben 72 Prozent "positives Arbeitsklima" als wichtigsten Punkt an, wenn es um Zufriedenheit am Arbeitsplatz geht.


Quelle: Spiegel online, spiegel.de, 12.03.2012