Indien: "Unsere Deutschkurse sind völlig überlaufen"

Er vertritt ein Milliardenvolk: Der indische Minister Shashi Tharoor will, dass sich sein Land in der Berufsausbildung an Deutschland orientiert und erklärt, warum die Inder mit Europa hadern.

Shashi Tharoor zählt zu zu den bedeutenden Denkern Indiens dieser Zeit. Seine Sachbücher und Romane sind Pflichtlektüre für Indien-Reisende. Seit Oktober 2012 bekleidet der Bestseller-Autor, frühere UN-Untergeneralsekretär und Abgeordnete der Kongresspartei das Amt des Staatsministers für Personalentwicklung in der Regierung von Premierminister Manmohan Singh.

Der 57-Jährige setzt auf eine engere Zusammenarbeit Deutschlands mit Indien. Auch die zweiten deutsch-indischen Regierungskonsultationen, an denen neben Premier Singh fünf weitere Minister am Mittwoch und Donnerstag (11. und 12.04.2013) in Berlin teilnehmen, sollen das Bündnis beider Länder festigen.

Die Welt: Herr Minister, ist Deutschland als politischer Partner überhaupt relevant für Indien?

Shashi Tharoor: Die bilateralen Beziehungen zwischen Indien und Deutschland sind exzellent, insbesondere die geschäftlichen und industriellen. In Pune im Bundesstaat Maharashtra, nicht weit von Mumbai, finden Sie Industriegebiete mit ausschließlich deutschen Firmennamen. Indien kann noch viel mehr von Deutschland profitieren. Wir sollten die deutsche Tradition der Berufsausbildung auch in Indien implementieren. Hier können wir von Euch lernen. Wir brauchen Tischler, Klempner, Bauzeichner, Maurer, Mechaniker.

Die Welt: Aber diese Berufe sind doch in Indien weit verbreitet.

Tharoor: Klar, aber unsere Gesellschaft funktioniert seit 3000 Jahren nach ein und demselben Schema: Wenn du Schuster werden willst, müssen dein Vater oder dein Onkel auch Schuster sein. Berufliches Know-How wird nur innerhalb der Familien weitergegeben. Wenn weder der Vater noch der Onkel Schuster ist, hast du Pech, weil dir keiner den Beruf beibringt. Anders als Indien ist Deutschland glücklicherweise ein funktionierendes System der gesellschaftlichen Zusammenarbeit. Das wollen wir uns abgucken.

Die Welt: Deutschland sehnt sich nach hoch qualifizierten Fachkräften, auch aus Indien. Warum kommen die Inder nicht?

Tharoor: Eine kleine Elite kommt ja nach Deutschland, in der Regel Ingenieure und Wissenschaftler. Einige kommen auch, um zu studieren. Das war übrigens schon in der Weimarer Republik der Fall. Die Sprachbarriere bleibt ein bedeutendes Hindernis. Unsere Amtssprache ist Englisch. Also ist es für uns leichter, in die USA, Kanada, Australien und England zu gehen. Ich bin mir sicher: Würden mehr Inder nach Deutschland gehen, würden viele sicher bleiben. Ich kenne einige Inder in Deutschland. Sie sind glücklich in dem Land.

Die Welt: Wie erklären Sie sich, dass immer mehr Inder Deutsch in der Schule lernen?

Tharoor: Nicht nur dort. Deutschkurse für Erwachsene sind so beliebt, dass sie völlig überlaufen sind. Die Inder sind ein neugieriges Volk. Und sie wissen, wann sie Chancen für sich nutzen können. Vor einiger Zeit habe ich in Ooty, einem Bergort im Staat Tamil Nadu, eine Schule besucht. Da habe ich tatsächlich gehört, wie ein Schüler Lieder von Schubert auf Deutsch sang. Sie sehen, das Interesse ist vorhanden.

Die Welt: Was kann unser Land von Ihrem lernen?

Tharoor: Es wäre vermessen, als Mitglied meiner Regierung einem anderen Land Ratschläge zu erteilen. Aber ganz ehrlich, Deutschland macht seine Sache unglaublich gut. Es ist das einzige europäische Land, das die europäische Rezession bisher sogar mit einem leichten Wachstum überstanden hat. Deutschland ist wichtiger geworden. Was sollen wir also Deutschland noch beibringen?

Die Welt: Die deutsch-indischen Beziehungen mögen funktionieren. Aber hat Ihre Regierung auch Europas Telefonnummer?

Tharoor: Das ist ein sehr kontroverses Thema, das ich als Minister lieber ausklammern will. Nur so viel: Der deutsche Botschafter in Delhi, Michael Steiner, ist ein leidenschaftlicher Fürsprecher Europas. Ich habe ihm gesagt, dass ich das gut finde, aber dass er es als Fürsprecher Deutschlands weitaus leichter hätte.

Die Welt: Das ist alles, was Sie zu Europa sagen wollen?

Tharoor: Nun, in diesem Fall will sich doch lieber über Bildung und Entwicklung in Indien sprechen. Sie können gern meine Haltung zu Europa aus meinem Buch "Pax Indica" zitieren.

Die Welt: Na dann. Sie sagen, Europa ist ein Ort für den Sommerurlaub, aber nicht für ernste Angelegenheiten. Sie wissen aber auch, dass die Eurokrise Indiens Wachstum härter treffen kann, als es das bisher getan hat.

Tharoor: Absolut. Ich sage ja auch, dass wir keine Probleme mit Europa haben. Das ist ein sehr, sehr attraktiver Ort. Im Moment reisen mehr indische Touristen nach Europa als durchs eigene Land. Europa ist bei Indern sogar beliebter als die USA. Lassen Sie mich Ihre Frage, ob wir Europas Telefonnummer haben, mit einem Beispiel beantworten. Indien macht sich große Sorgen um den Terrorismus. Es ist für unsere Regierung viel effizienter, auf die einzelnen europäischen Länder mit ihren Geheimdiensten und eigenen politischen Schwerpunkten zuzugehen, als mit irgendeiner europäischen Institution über Strategien gegen den Terror zu sprechen. Mir fällt beim besten Willen keine europäische Einrichtung ein, die uns bei Terrorfragen mehr helfen kann als Länder wie Deutschland, Frankreich oder Großbritannien.

Die Welt: Sie haben Indien einmal als ein Thali, ein Gericht mit vielen, sehr unterschiedlichen Speisen, bezeichnet. Welche der Zutaten dominiert momentan?

Tharoor: Gott sei Dank gleichen sich die Speisen immer aus. Indien hat 28 Staaten, ein Thali besteht aus zwölf Speisen. Wenn man ein Thali isst, darf man nicht einfach eine Speise außen vor lassen. Du musst sie alle essen. Erst dann wird es köstlich. So muss man auch mit Indien umgehen. Jeder Einfluss gehört zu diesem Land. Großartig ist dieses Land nur dann, wenn wir es als Ganzes betrachten – mit allen Stärken und Schwächen.

Die Welt: Indiens Probleme liegen auf der Hand: Ein Drittel der Inder sind Analphabeten, 70 Prozent müssen mit weniger als zwei US-Dollar pro Tag auskommen. Was wollen Sie anders machen?

Tharoor: Um ehrlich zu sein: alles. Wir müssen die Sprache des 21. Jahrhunderts sprechen, und damit meine ich die Entwicklung einer speziellen Hardware und Software. Die Hardware sind unsere Häfen, Airports, Straßen, das Schienennetz. Da machen wir Fortschritte. Wer heute mit dem Flugzeug in Delhi landet, kann sich wirklich glücklich schätzen, dass er sich den alten Flughafen nicht mehr zumuten muss. Aber auch in der Infrastruktur ist noch eine Menge Luft nach oben. Ich nenne nur die sanitären Anlagen und die Abwasserleitungen.

Die Welt: Und die indische Software?

Tharoor: Das ist unser Humankapital, dessen Potenzial wir wecken müssen. Nur wo fangen wir an? Wir sehen, dass allein 300 bis 400 Millionen Menschen ohne lokale ärztliche Versorgung leben müssen. Wir sehen aber auch, dass 540 Millionen Inder jünger als 25 und allein 225 Millionen zwischen zehn und 19 Jahren alt sind. Eigentlich sind das gute Nachrichten für unser Land. In 30 Jahren, wenn der Rest der Welt – inklusive China – gealtert ist, verfügen wir über junge Arbeitskräfte: nicht nur für Indien, sondern für die ganze Welt.

Die Welt: Indien wird in den kommenden Jahrzehnten zum bevölkerungsreichsten Land der Erde aufsteigen. Haben wir es dann mit einer Weltmacht zu tun?

Tharoor: Mich befremdet diese Debatte. Ja, wir werden China zahlentechnisch überholen. Die Vereinten Nationen rechnen damit, dass es 2026 soweit ist. Wenn wir alles richtig machen, werden die vielen Inder ein Gewinn für uns sein. Wenn wir es falsch machen, entwickelt sich unsere Bevölkerungszahl zur Katastrophe. Die nächsten zwei Jahrzehnte werden fundamental darüber entscheiden, wo Indien in der Welt stehen wird.

Die Welt: Muss der weltpolitische Einfluss Ihres Landes zunehmen?

Tharoor: Nun, jetzt bin ich Teil der Regierung und kann mir nicht erlauben, über die Arbeit anderer Ministerien zu urteilen. Ich halte meine Antwort also recht allgemein: Indien muss seine Stimme öfter erheben. Auch Indien hat eine Verantwortung für die Welt. Gleichwohl nehmen uns unsere innenpolitischen Herausforderungen zuvörderst in Anspruch. Auch unsere Außenpolitik muss diesem Gebot folgen.


Quelle: DIE WELT, welt.de, 09.04.2013; Artikel von Karsten Kammholz