Prüfungshölle China - Erste Anzeichen eines Umdenkens zwischen Reform und Tradition

Im Juni fand in China der nationale Hochschulzugangstest (Gaokao) statt. Landesweit hatten sich ungefähr 9,4 Millionen Schüler (meist der Jahrgangsstufe 12) angemeldet. Für viele Chinesen sind es die drei schwarzen Tage. Besorgt fiebern sie dem Gaokao entgegen.

Nur wer beim Gaokao gut abschneidet, hat die Eintrittskarte für eine der Topuniversitäten des Landes gelöst. Auf die meisten aber wartet die Frage "Was nun?": Im Folgejahr erneut antreten, sich für eine zweitklassige Universität entschieden oder gar für eine gesellschaftlich nur wenig anerkannte berufliche Ausbildung?

Fragen an Professor Ka Ho MOK, Bildungsexperte des Hong Kong Institute of Education und MERICS Senior Visiting Academic Fellow

Weshalb hat die nationale Hochschulzugangsprüfung so eine zentrale Bedeutung?

Die große Bedeutung des Gaokao hängt mit der Tradition landesweiter Auswahlverfahren zusammen. Einst sollten so die Gelehrtesten und Fähigsten aus der Bevölkerung ausgewählt werden. Im kaiserlichen China ging es um die Auswahl für die Beamtenlaufbahn.

Heute erwartet die erfolgreichen Absolventen des Hochschulzugangstests der Zugang zu Chinas Topuniversitäten. Wer dort erfolgreich studiert, besitzt beste Chancen auf eine Karriere im Staatsdienst oder in führenden Unternehmen.

In den vergangen Jahren gab es vermehrt öffentliche Kritik am Gaokao. Warum?

Schüler und Eltern beklagen in erster Linie den großen Druck, dem die Schüler ausgesetzt sind.

Bildungsexperten und internationale Organisationen wiederum kritisieren die einseitige Fokussierung auf die Abfrage auswendig gelernter Inhalte sowie die mangelnde Chancengleichheit.

Schüler aus ärmeren Regionen und insbesondere aus dem ländlichen China werden systematisch benachteiligt. Schulen im ländlichen Raum sind schlechter ausgestattet. Und auch bei der Hochschulzulassung haben Schüler vom Land es schwerer. Denn die Hochschulzulassung ist lokal geregelt, das heißt, jede Hochschule bevorzugt Schüler aus der eigenen Stadt beziehungsweise Provinz.

Schüler aus Städten wie Beijing und Shanghai haben dadurch bessere Chancen, einen Platz an den Topuniversitäten zu bekommen als Schüler aus anderen Provinzen.

Wie reagiert die chinesische Regierung auf diese Kritik?

Das Bildungsministerium hat 2014 eine Reform des Gaokao-Systems auf den Weg gebracht. Erklärtes Ziel der Reformen ist es, den Leistungsdruck zu verringern.

Die Regierung erprobt derzeit in Shanghai und in der Küstenprovinz Zhejiang die konkrete Umsetzung und Auswirkung der Reformansätze. Hierzu zählt eine Ausweitung des Prüfungszeitraums, ebenso wie eine Neugewichtung der Leistungen in den Kernprüfungsfächer Mathematik, Chinesisch und Englisch. Es sollen auch die Leistungen in anderen Fächern sowie soziales Engagement berücksichtigt werden.

Weitere Anzeichen für ein Umdenken im Bildungssystem sind Pilotprogramme, die Schülern mehr Freiraum bei den Fächerkombinationen bieten sollen. Dabei soll beispielsweise die strikte Trennung zwischen Naturwissenschaften und Technik auf der einen und Geistes- und Sozialwissenschaften auf der anderen Seite aufgehoben werden.

Schüler sollen die Möglichkeit erhalten, Fächer gemäß ihrer Neigungen und Fähigkeiten frei zu kombinieren. Auch die bisherige Form der Aus- und Weiterbildung von Lehrern kommt auf den Prüfstand.

Ob die Reformen wie geplant ab 2017 landesweit auf andere Städte und Provinzen ausgeweitet werden, hängt von dem Ergebnis einer Evaluation ab, die nach Abschluss des diesjährigen Gaokao erfolgen soll.

Welche Möglichkeiten stehen den Schülern offen, die beim Gaokao schlecht abschneiden?

Neben der Möglichkeit den Test im Folgejahr zu wiederholen oder sich an einer unbekannten Universität einzuschreiben, bestehen zwei weitere Möglichkeiten: der Besuch einer beruflichen Bildungseinrichtung oder der Weg ins Ausland.

Aufgrund des sich abzeichnenden Fachkräftemangels fördert die chinesische Regierung den Ausbau von beruflicher Bildung massiv. Da diese in der chinesischen Gesellschaft jedoch nur wenig Anerkennung findet, wenden sich viele stattdessen dem Angebot privater oder internationaler Bildungseinrichtungen zu. Auch diese Entwicklung hat die Unterstützung durch die chinesische Regierung erfahren.

In den vergangenen Jahren hat diese den Bildungssektor schrittweise für private und internationale Anbieter geöffnet. Insbesondere Lokalregierungen fördern die Zusammenarbeit von ortsansässigen Hochschulen mit internationalen Partnern. Die Kooperationsformen sind vielseitig.

Offiziellen Angaben zufolge gibt es aktuell mehr als 1.000 verschiedene Kooperationsprojekte. Hierunter finden sich die Campus-Anlagen von namhaften internationalen Universitäten wie der New York University in Shanghai oder der Universität Nottingham in Ningbo sowie gemeinsame Studiengänge.

Welche Herausforderungen bringt die Internationalisierung mit sich?

Die Internationalisierung und Pluralisierung des chinesischen Bildungsmarkts bedeutet für das Bildungsministerium einen enormen zusätzlichen Kontrollaufwand, um die Qualität und Effektivität der Kooperationsmodelle und privaten Anbieter zu gewährleisten. Solange dies nicht vollständig gelingt, können findige Geschäftsleute mit qualitativ zweifelhaften Bildungsangeboten ihr Geld verdienen.

Welche Rolle spielen deutsche Akteure bei der Internationalisierung und Neuordnung der chinesischen Bildungslandschaft?

Bislang geben Großbritannien und die USA im Hochschulsektor bei internationalen Kooperationsprojekten in China den Ton an.

Deutschland genießt dagegen unter chinesischen Bildungsexperten einen sehr guten Ruf als Modell für eine gelungene berufliche Bildung in China. Um in der breiten öffentlichen Wahrnehmung aufzuschließen, benötigt Deutschland eine klarere Positionierung. So sollte Deutschland die Stärken des deutschen Berufsschulwesens offensiv vermarkten: Nämlich die praxisorientierte Ausbildung von dringend gebrauchten Fachkräften.

Kurzum: Deutschland hat sein Potenzial in diesem Bereich noch nicht ausgeschöpft. Ein Ausbau der Kooperation im Bildungssektor hätte sicher auch positive Effekte auf die Kooperation in den deutsch-chinesischen Wirtschafts- und Kulturbeziehungen.

Quelle: merics - Mercator Institute for China Studies, China Flash/Pressemitteilungen, 01.06.2015