Berufsschulen in China: Handwerker sollt ihr sein
Die chinesische Regierung will die Berufsschulen im Land verbessern. Das ist wichtig für die Industrie, offenbart aber auch die geringen Aufstiegschancen vieler Chines*innen.
Franka Lu ist eine chinesische Journalistin und Unternehmerin. Sie arbeitet in China und Deutschland. In einer ZEIT-ONLINE-Serie berichtet sie kritisch über Leben, Kultur und Alltag in China. Um ihr berufliches und privates Umfeld zu schützen, schreibt sie unter einem Pseudonym.
Im Juni sind viele chinesische Eltern plötzlich in Panik geraten. Der Auslöser war eine Nachricht des Bildungsministeriums: Die Regierung plane, die Hälfte der Jugendlichen in Zukunft in Berufsbildungseinrichtungen zu schicken. Derzeit besuchen gerade einmal rund vier Prozent der Heranwachsenden in China, nachdem sie das dortige Äquivalent eines deutschen Realschulabschlusses gemacht haben, danach eine Berufsschule.
"Wenn du faul bist, landest du in der Berufsschule": Seit Jahrzehnten ist das gerade für Kinder, die in Städten leben mit ihren Verlockungen vom wirtschaftlichen Aufstieg, eine schreckliche und demütigende Drohung. Denn die chinesische Berufsschule bereitet einen zumeist auf ein trostloses, hartes Leben als Billigarbeiterin und Billigarbeiter vor, auf geringes Einkommen, schlechten Arbeitsschutz und niedrigen Sozialstatus. Seit drei, vier Jahren versucht die chinesische Regierung, das zu ändern und die Aussichten für Berufsschulabgängerinnen zu verbessern. Nun scheint sie damit ernst zu machen. Aber warum ist das so wichtig? Und kann es überhaupt funktionieren?
Um diese Fragen beantworten zu können, muss man erst einmal verstehen, warum die Berufsschulbildung in China noch immer einen derart schlechten Ruf hat, obwohl dort Deutschland mit seinem viel gerühmten dualen Ausbildungssystem und Japan mit seinem On-the-job-Training in Unternehmen seit Jahrzehnten als Vorbilder gelten. Nach wie vor befürchten in China dennoch rund Dreiviertel der Berufsschüler und Zweidrittel der Eltern, dass die Gesellschaft diese Ausbildungsform nicht wertschätzen wird.
Wie wenig diese davon hält, sieht man schon daran, dass die Berufsschulbildung gerne "Kopf-kürzer-Bildung" genannt wird. Kopf kürzer, weil einem Lebenschancen abgeschnitten werden. Zwar sind Einkommen und Jobsicherheit für viele klassische Lehrberufe wie etwa Automechanikerin und Koch in China zuletzt deutlich gestiegen. Doch das Ansehen, das Menschen genießen, die letztlich ein Handwerk ausüben, ist in China ein deutlich geringeres als etwa in Deutschland.
Im grandiosen "Chinesischen Traum", den Präsident Xi Jinping erstmals im Jahr 2012 in Kontrast zum American Dream ausgerufen hat, wird genauso wie im ehrgeizigen "Made-in-China-2025"-Plan der Regierung aus dem Jahr 2015 das Ziel formuliert, zum Weltmarktführer in Technologieentwicklung zu werden. Dafür braucht es aber nicht nur Ingenieurinnen, die neue Maschinen entwickeln, sondern auch gut ausgebildete Arbeiter, die sie bedienen oder den Herstellungsprozess von Produkten mindestens überwachen können. Die chinesische Industrie steht derweil vor allem wegen der dort rasant steigenden Arbeitskosten unter enormem Automatisierungs- und Rationalisierungsdruck.
Das Berufsbildungssystem des Landes in seinem aktuellen Zustand bringt jedoch nicht genügend darauf vorbereitete Absolventinnen und Absolventen hervor. Die praktische Berufsausbildung im Land ist zu schlecht.
Auch deshalb, weil die Berufsschulen chronisch unterfinanziert und vom Staat rechtlich kaum abgesichert sind. Während der akademische Bereich in China bereits Anfang des Jahrhunderts einen enormen qualitativen und quantitativen Sprung gemacht hat – mehr und bessere Universitäten bilden heute mehr Studierende besser aus als früher, dank enormer staatlicher Investitionen –, wurde die praxisbezogene Berufsausbildung vernachlässigt.
Der frühere Erfolg des chinesischen Modells der staatsdirigistischen Marktwirtschaft wird nun zur Schwäche. China konnte auch deshalb zur Fertigungsfabrik der Welt werden, weil eine schier unerschöpfliche Masse an kaum ausgebildeten billigen Arbeitskräften konkurrenzlos billige einfache Produkte herstellte, und das bei einem im Weltmaßstab extrem geringen Automatisierungsgrad der Industrie.
Der Mangel an staatlichen Investitionen in die handwerkliche und technische Ausbildung wurde begleitet vom schlechten Umgang mit den Billigarbeiterinnen, die eilig und brutal durch die Berufsschulen gejagt worden waren.
"Praktika" sind in Wahrheit eher Sklavendienst
Erst im zurückliegenden Jahrzehnt sind etwa in der Yangtse- und der Perlflussdelta-Region, wo sich die Fertigungsstätten führender Hersteller drängen, bessere Berufsschulen entstanden. Manche von ihnen haben als Kooperationen mit westlichen Konzernen wie VW und Bosch und mit deutschen Bildungseinrichtungen begonnen. Das Problem für China ist, dass es weiterhin viel zu wenige eigene gute Berufsschulen gibt.
Nach wie vor sind chinesische kaum mehr als Vorschulen für Ausbeutungsbetriebe. Im Alter von 16 Jahren wechseln die Jugendlichen dorthin; empfangen werden sie nicht selten von verzweifelten Lehrerinnen und Mitschülern. Mobbing ist an der Tagesordnung, gerade fleißige Schüler haben mit feindseligen Reaktionen zu rechnen.
Eine Studie aus dem Jahr 2016, die den Ausbildungsweg von 25.000 Schülerinnen und Schülern verfolgte, hat erbracht, dass rund 30 Prozent der Berufsschüler am Ende keinen Abschluss gemacht haben; an den Gymnasien liegt die Abbrecherquote in China nur im einstelligen Prozentbereich.
Dass derart viele Jugendliche die Berufsschule vorzeitig verlassen, hat auch mit sklavendienstartigen "Praktika" zu tun, zu denen sie gezwungen werden. Nicht selten steckt dahinter eine Partnerschaft von Schulleitungen und Firmen, die für beide Seiten profitabel ist. Letztlich laufen solche Kooperationen darauf hinaus, dass Unternehmen mit jungen Leuten versorgt werden, die viele Stunden für wenig, manchmal auch gar kein Geld arbeiten müssen. Wie sich die Firmen bei den Schulleitungen revanchieren, ist nicht immer klar.
Aber es gibt einschlägige Skandale. In einem neulich bekannt gewordenen Fall mussten Berufsschülerinnen und -schüler sechs Tage die Woche in einer Partnerfabrik ihrer Schule arbeiten, die Schichten dauerten zwölf Stunden, der Monatslohn betrug 1.300 Yuan, umgerechnet etwa 180 Euro. Eine Krankenversicherung gab es für die Jugendlichen nicht, nach Arbeitsunfällen beteiligte sich die Schule mit ein paar Hundert Yuan an der medizinischen Behandlung.
Schülerinnen und Schüler, die sich weigern, "Praktika" unter solchen Bedingungen zu machen, verweigern die Schulen im Gegenzug routinemäßig ein Diplom. Derlei Ausbeutung von Berufsschülern wurde in China im Jahr 2016 für ungesetzlich erklärt, ist aber offenbar weiter gängige Praxis. Nur selten hört man von Betroffenen, die für ihr Rechte kämpfen. Viele Jugendliche, die nicht studieren können oder wollen, entscheiden sich stattdessen, ohne Umweg über eine Berufsschule lieber Kurzzeitjobs für Ungelernte anzunehmen.
Zwar hat die chinesische Regierung bereits im Laufe der Zehnerjahre langsam verstanden, dass die Berufsausbildung mit den Ambitionen des Landes nicht Schritt halten kann. Sie hat seitdem Anstrengungen zu deren Verbesserung unternommen, nur leider nicht sehr konsequent.
Im Jahr 2016 forderte der Premierminister Li Keqiang chinesische Unternehmen auf, "Handwerkergeist" zu entwickeln – er meinte damit offenbar die Art von Arbeitsethos, die man mit deutschen und japanischen Facharbeiterinnen und ihrer Ausbildung verbindet. Seit 2018 wurden Strategiepapiere und Gesetze verfasst, um einer solchen Entwicklung den Weg zu ebnen, und Präsident Xi Jinping hat in seiner Rede über die Verbesserung der Berufsausbildung Anfang des Jahres von der Kultivierung von "Facharbeitern einer großen Nation" (also China) gesprochen.
Loyalität fehlt auf allen Seiten
Doch die Zentralregierung hält sich weiter mit Investitionen ins Berufsschulwesen zurück, und die Regionalregierungen fallen als weitere staatliche Geldgeber aus, denn ihre Verschuldung hat mittlerweile die Höhe des halben Bruttoinlandsprodukts von ganz China erreicht; die Etats der Provinzen und Städte leiden auch unter den Folgekosten der nicht endenden Pandemie.
In seiner oben zitierten Rede im Jahr 2016 und damit lange vor Ausbruch der Corona-Pandemie klang Premier Li indes so, als werde das nötige Geld für Berufsschulen gar nicht unbedingt von der öffentlichen Hand in China kommen – sondern als erwarte Li, dass vor allem die Unternehmen für die Berufsbildungsoffensive zahlen würden, aus Eigennutz.
Nur haben die chinesischen Unternehmen ebenso mit den wirtschaftlichen Folgen der Pandemie zu kämpfen und mit den gleichzeitig steigenden Arbeitskosten. Und die Firmen scheinen schon lange zu meinen, dass sich Investitionen in die Berufsschulbildung potenzieller künftiger Angestellter für sie nicht unbedingt lohnen. Auch den Unternehmen fehlt, ähnlich wie der chinesischen Gesellschaft an sich, offenkundig der Glaube an die Verbesserung der Ausbildung dort, oder sie fürchten bürokratische Hindernisse.
Hier rächt sich der Mangel an rechtlicher Absicherung durch den Gesetzgeber ganz direkt: Firmen, die Jugendliche ausbilden, müssen damit rechnen, dass ihnen Konkurrenten diese Azubis einfach "stehlen". Anders als in Deutschland haben die Unternehmen und Industrieverbände in China keine nationale Allianz gebildet, die diese Form von potenzieller Vertragsverletzung und unlauterem Wettbewerb unterbindet.
Die fehlende Loyalität der Angestellten zu ihren Arbeitgebern ist ein anderes, schwieriges Thema in China. Jahrzehnte des brutalen Wettbewerbs in der Industrieproduktion mit Niedriglöhnen und sehr wenig Arbeitsschutz sowie die – vorsichtig formuliert – nicht gerade ideale Situation beim Schutz geistigen Eigentums in China haben zu einer Kultur geführt, in der Unternehmen schnell und rücksichtslos agieren müssen.
Um die Arbeitskosten zu senken, greift die herstellende Industrie insbesondere in Zeiten von Produktionsspitzen vorzugsweise auf Kurzzeitarbeiter zurück, statt längerfristige Arbeitsverhältnisse mit ihren Mitarbeitenden anzustreben. Die Unternehmen sind nicht bereit, die Gehälter der eigenen Angestellten kontinuierlich anzuheben, und holen sich lieber Leute (und deren Können und Wissen) von der Konkurrenz. Wo es keine Loyalität von Firmenleitungen zu ihren Belegschaften gibt, da existiert dementsprechend auch keine in die umgekehrte Richtung. Eine chinesische Facharbeiterin weiß, wie sie sich entscheidet, bekommt sie ein gutes Angebot von anderswo.
Interessanterweise schienen deutsche Unternehmen in der Yangtse-Delta-Region eine Art Miniutopia der Berufsausbildung geschaffen zu haben. In der Stadt Taicang in der Provinz Jiangsu, wo sich mehr als 300 deutsche Unternehmen angesiedelt haben, brachten diese die deutschen Verträge mit. Die Kluft der Einkommen für die gleichen Jobs darf zwischen konkurrierenden Unternehmen nicht zu groß werden; Firmen dürfen keine Angestellten voneinander abwerben; wirbt ein Unternehmen einen von der Konkurrenz Ausgebildeten ab, muss es zum Ausgleich Tausende Yuan als Entschädigung zahlen. Solange die Auszubildenden nicht von chinesischen Wettbewerbern "gestohlen" werden, die sich um diese Regeln nicht kümmern, scheint dieses Miniutopia gut zu funktionieren.
Auf den ersten Blick ähneln sich die Berufsbildungssysteme Chinas und Deutschlands im Übrigen. Nach der neunten Klasse endet in China die Schulpflicht und die Schülerinnen strömen in zwei Richtungen: Die Glücklichen wechseln auf die weiterführenden Schulen und bereiten sich auf ihr Studium vor; die Unglücklichen müssen auf die Berufsschulen (möchten sie keine ungelernte Arbeit machen).
Eine Garantie für den Zugang zur Universität gibt es allerdings auch für Gymnasiastinnen nicht, schon darin unterscheidet sich das chinesische vom deutschen System: Bestehen sie die Eingangsprüfungen nicht, enden sie zusammen mit den besseren und ambitionierteren Berufsschülerinnen auf den Fachhochschulen.
Und die lassen sich nicht mit denen in Deutschland vergleichen: Wer in China eine Fachhochschule besucht hat, gehört danach zur Arbeiterklasse, die Karriereaussichten sind eng begrenzt. Schon beim Berufseinstieg unterscheiden sich die Einstiegsgehälter deutlich, und dieser Abstand vergrößert sich im weiteren Verlauf sehr rasch, da die Fachhochschulabsolventinnen viel weniger Aussicht haben, Managementposten zu erringen.
Für Berufsschulabsolventinnen und die Mehrzahl der ungelernten Wanderarbeiter, die vom Land in die Städte strömen, sieht es noch schlechter aus. Beide Gruppen haben nur geringe Chancen, jemals über schlecht bezahlte Jobs hinauszugelangen. Die soziale Mobilität in China ist gering, die Ausbildung (so man überhaupt eine hat) bestimmt den weiteren Lebensweg. Der ist dadurch gekennzeichnet, dass sich Arbeitgeber irgendwann nach jüngerem Personal umsehen. Und der Mangel an Aufstiegschancen wird vererbt, Arbeiterinnen können es sich finanziell nicht leisten, ihren Kindern etwa mit teurem Nachhilfeunterricht eine bessere Startposition beim Rennen auf die Studienplätze zu verschaffen. Das führt dazu, dass auch die je nächste Generation keine echten Bildungs- und Aufstiegschancen besitzt.
Eine Reform des Berufsbildungssystems wäre letztlich also der Beginn einer gesamtgesellschaftlichen Veränderung in China. Die Verbesserung schon der Berufsschulen wäre ein wichtiger Schritt heraus aus der ökonomischen Falle, in der viele Chinesinnen und Chinesen stecken.
Die Regierung weiß im Grunde, dass sie diesen Schritt gehen muss, schon um die Wettbewerbs- und Zukunftsfähigkeit der eigenen Industrie zu erhalten. Aber sie wird den Weg auf die chinesische Art gehen, von oben nach unten, staatsdirigistisch. Und sie wird nichts verändern wollen, was sie selbst gefährdet.
- Deutsch von Robert Meyer
Quelle: ZEIT ONLINE, zeit.de, 18.12.2021