Brasilien: Gesellschaftliche Hintergründe der Berufsbildung
Brasilien schafft es nicht, talentierte Arbeitskräfte zu fördern, zu halten und dem Arbeitsmarkt zur Verfügung zu stellen. Der Artikel aus der neuen iMOVE-Marktstudie Brasilien zeigt die Gründe auf.

Der Bericht "Bildung auf einen Blick" der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) aus dem Jahr 2021, der Bildungsdaten und Bildungspolitiken weltweit auswertet, wirft ein kritisches Licht auf Brasilien.
Das Land wird als eines mit den niedrigsten Ausgaben für die Grundbildung, einer hohen Anzahl junger Menschen, die weder arbeiten noch studieren, und einem geringen Interesse an einer beruflichen Ausbildung beschrieben. Unter den 45 untersuchten Ländern zählt Brasilien zu den fünf Ländern mit dem niedrigsten Prozentsatz an Schülerinnen und Schülern, die eine Berufsausbildung absolvieren – nur elf Prozent im Vergleich zum OECD-Durchschnitt von 44 Prozent.
Der Bericht zeigt außerdem, dass in Brasilien ein hoher Anteil junger Menschen im Alter von 18 bis 24 Jahren weder eine Ausbildung absolviert noch arbeitet. Diese Gruppe wird als "Geração Nem-Nem" bezeichnet, was dem internationalen Begriff der NEETs (Not in Education, Employment or Training) entspricht. Etwa 24 Prozent der Jugendlichen sind in dieser Situation, während die Quote in Industrieländern nur bei rund 15 Prozent liegt.
Unter den NEETs in Brasilien liegt der Anteil der Frauen bei etwa 30 Prozent, was deutlich höher ist als der Durchschnitt von 14 Prozent in anderen Ländern. Diese geschlechterspezifische Diskrepanz lässt sich vor allem durch die erheblichen sozialen Ungleichheiten in Brasilien erklären, wo viele einkommensschwache Frauen auch alleinerziehende Mütter sind.
Die Ergebnisse der letzten PISA-Studie (Programme for International Student Assessment) aus 2022 zeigen, dass brasilianische Schülerinnen und Schüler in den Bereichen Mathematik, Lesen und Naturwissenschaften unterdurchschnittlich abschneiden. Weniger als die Hälfte der Schülerinnen und Schülern erreicht grundlegende Kompetenzen in Mathematik und Naturwissenschaften. Brasilien hat auch einen niedrigen Anteil an Spitzenschülerinnen und Schülern, die in diesen Fächern hohe Leistungen erbringen. Trotz leichter Verbesserungen in einigen Bereichen bleibt die Gesamtleistung weit unter dem OECD-Durchschnitt
Höhere Bildung zählt
Die anhaltende Krise im öffentlichen Bildungswesen Brasiliens wurzelt in der ungleichen Verteilung der für Bildung eingesetzten Mittel, die sich vorrangig auf die Sekundar- und Hochschulbildung konzentrieren, während die Grundschulbildung nach Meinung lokaler Bildungsexpertinnen und Experten nicht ausreichend berücksichtigt wird.
So hat die brasilianische Regierung seit den mittleren 2010er Jahren weniger als ein Drittel der Beträge investiert, die andere OECD-Länder pro Schülerin und Schüler für die öffentliche Grundbildung aufwenden.
Diese Priorisierung der höheren Bildung spiegelt sich auch in der daraus resultierenden hohen Analphabetenquote unter Kindern wider. Als Antwort auf den grassierenden Analphabetismus hat Präsident Lula im Juni 2023 das Programm "Nationales Engagement für alphabetisierte Kinder" initiiert und mit drei Milliarden Brasilianische Real (R$) für 2,5 Jahre ausgestattet.
Weiterhin tragen soziale Faktoren, wie die Notwendigkeit, zum Familienunterhalt beizutragen, zum Schulabbruch vieler brasilianischer Jugendlicher bei, was zu einer fehlenden Grundschulbildung beiträgt. Daher wird im Rahmen der "Bolsa Familia", einem Unterstützungsprogramm armer Bevölkerungsschichten, die Unterstützung auch nur ausgezahlt, wenn die Kinder und Jugendlichen den Besuch einer allgemeinen Schule nachweisen können.
Neben einer direkten finanziellen Förderung bei der Grundbildung betonen Expertinnen und Experten auch besonders die Notwendigkeit, die berufliche Qualifikation der Lehrkräfte in den öffentlichen Schulen zu erhöhen, um das Ansehen und die Qualität der staatlichen Ausbildungseinrichtungen zu verbessern. Daneben muss die unzureichende Ausstattung der Schulen verbessert und die Arbeitsbedingungen der Lehrkräfte, wie niedrige Gehälter und unsichere Anstellungsverhältnisse, angepasst werden.
Aktuell sind 1,6 Millionen Studierende in Brasilien an einer Universität eingeschrieben, wobei 60 Prozent von ihnen im Fernstudium lernen. Dies ist primär dem Umstand gewidmet, dass viele Brasilianerinnen und Brasilianer arbeiten und nebenher studieren.
Um die Zahl der Studierenden zu erhöhen und besonders auch Personen aus sozial schwachen Gruppen ein Universitätsstudium zu ermöglichen, wurde im Jahr 2005 das Programm "Universitäten für alle" (Programa Universidade para Todos, Prouni) eingeführt.
Hierbei vergeben private Bildungseinrichtungen aus dem Bereich der Hochschulbildung Vollstipendien (100 % der Studiengebühren) und Teilstipendien (50 % der Studiengebühren) an Studierende aus finanziell benachteiligten Bevölkerungsschichten. Die Stipendien werden durch Steuerbefreiungen für die Bildungsanbieter auf Bundeseben gegenfinanziert und sind somit letztendlich eine Förderung durch den brasilianischen Bundesstaat.
Fachkräftemangel schwächt Industrie
Der Mangel an qualifizierten Arbeitskräften stellt für viele brasilianische Unternehmen ein bedeutendes Problem dar. Gemäß einer Umfrage des Dachverbandes der Industrie (CNI) im Jahr 2020 bestätigte etwa die Hälfte der befragten Unternehmen diese Herausforderung. Insbesondere Unternehmen im Bereich der Rohstoffgewinnung und des verarbeitenden Gewerbes äußerten, dass sich dies negativ auf ihre Produktivität und die Qualität ihrer Produkte auswirke.
Brasiliens unzureichende Fähigkeit, talentierte Arbeitskräfte zu fördern, zu halten und dem Arbeitsmarkt zur Verfügung zu stellen, spiegelt sich auch in den Rankings des International Institute for Management Development (IMD) wider. Im Ranking zur internationalen Wettbewerbsfähigkeit rutscht Brasilien weiter zurück, wobei es beim Bildungskriterium das Schlusslicht bildet.
Im Jahr 2022 belegte Brasilien nur den 59. Platz von 63 untersuchten Ländern. Diese Entwicklung platziert die führende Wirtschaftsmacht der Region hinter Ländern wie Chile, Peru, Mexiko und Kolumbien. Im World Talent Ranking des IMD befindet sich Brasilien ebenfalls regelmäßig am unteren Ende der Liste.
iMOVE-Marktstudie Brasilien
Quellen
Amerika21: Brasilien - Regierung Lula startet Alphabetisierungsplan für Kinder
IMD - International Institute for Management Development
Kooperation international > Länder - Brasilien
Ministério do Desenvolvimento e Assistencia Social, Família e Combate à Fome
latinapress: Das öffentliche Bildungsniveau in Brasilien sinkt weiter
OECD: Education Policy Outlook in Brazil (PDF, englisch, 2021)
OECD: PISA 2022 Results (Volume I)
statista: Brasilien: Wachstum des realen Bruttoinlandsprodukts (BIP), Prognosen bis 2029
Quelle: iMOVE-Marktstudie Brasilien