Indische Arbeitskräfte: Der Traum von mehr Geld – und der deutschen Autobahn

Im Trainingszentrum einer indischen Vermittleragentur versuchen sich die Deutschschüler gerade an einem Alltagsdialog. Etwa zwei Dutzend junge Inder sitzen in einem fensterlosen Raum. Zwei von ihnen stellen sich vor der Klasse auf und begrüßen sich mit Handschlag. 

Sie spielen ein Szenario nach, das so ähnlich schon bald Realität werden soll: "Seit sechs Monaten wohne ich in Erfurt und mache meine Ausbildung als Koch", sagt der eine von ihnen mit einem deutlich indischen Akzent. "Was für ein Zufall, ich bin auch Koch als Beruf!", entgegnet der andere. Er wohne nun in Hamburg, wo er auch seine Ausbildung gemacht habe. "Ich fühle mich sehr wohl, weil ich in Deutschland bin", sagt er.

Mit dem praxisnahen Unterricht werden die Schüler auf eine Zukunft in Deutschland vorbereitet. Die Agentur "Magic Billion" am Rande der Metropolregion Delhi ist darauf spezialisiert, Fachkräfte in die Bundesrepublik zu schicken, wo es seit Jahren an gut ausgebildeten Arbeitskräften mangelt. Nach Umfragen des Industrie- und Handelskammertages hat mehr als die Hälfte der deutschen Unternehmen Probleme, offene Stellen zu besetzen. Als Ausweg gilt die gezielte Zuwanderung von Fachkräften aus dem Ausland – und Indien seit Langem als mögliches Herkunftsland.

Wichtiges Herkunftsland für reguläre Migration

Einige dürften sich noch daran erinnern, wie die Schröder-Regierung nach der Jahrtausendwende IT-Kräfte aus Indien nach Deutschland holen wollte. Das Ergebnis blieb hinter den Erwartungen zurück, doch 20 Jahre später wird Indien immer mehr zum wichtigen Herkunftsland für Einwanderer, darunter auch von Fachkräften. Nach Angaben des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (BAMF) aus dem Jahr 2021 gehört Indien heute zu den zehn wichtigsten Herkunftsländern für reguläre Migration insgesamt, wobei sechs dieser zehn wichtigsten Herkunftsländer andere Europäische Union (EU)-Staaten waren.

Noch stärker macht sich der Zuzug bei den Fachkräften bemerkbar: Hierbei ist Indien unter den Nicht-EU-Staaten mittlerweile sogar das wichtigste Herkunftsland. Insgesamt lebten nach Zahlen des statistischen Bundesamts 33.900 Inder Ende 2021 mit einer Arbeitsgenehmigung in Deutschland.

Anstatt mit einer Greencard kommt etwa ein Viertel der Fachkräfte mit einer "blauen Karte" der EU. Sie erleichtert Fachkräften mit einem Mindestgehalt von 56.400 Euro die Einwanderung. Erleichterungen brachte auch das vor zwei Jahren in Kraft getretene Fachkräfteeinwanderungsgesetz. Speziell mit Indien hat Deutschland Ende 2022 außerdem ein Migrations- und Mobilitätspartnerschaftsabkommen abgeschlossen.

Außerdem hat die Regierung Anpassungen für das Fachkräfteeinwanderungsgesetz festgelegt, sodass Personen mit Uniabschluss oder einer Ausbildung noch schneller und einfacher angeworben werden können. Bundeskanzler Olaf Scholz hat das Thema auch während seiner jüngsten Indien-Reise aufgegriffen. Während eines Besuchs in Bengaluru, dem indischen "Silicon Valley", kündigte Scholz an, die Visa-Erteilung insbesondere für IT-Spezialisten vereinfachen zu wollen.

"Ich will das BMW-Museum besuchen"

Die Teilnehmer des Deutschkurses in Delhi haben die meisten Formalitäten noch vor sich. In der Dialogübung hat der 26 Jahre alte Ankit Yadav jedenfalls schon gezeigt, dass er beim Spracherwerb, der wohl größten Hürde, auf dem besten Weg ist. "Ich fühle mich sicher, weil ich in sechs Monaten schon so viel Deutsch gelernt habe", sagt er nach dem Unterricht. Der junge Inder aus Neu Delhi hat eine Hochschule für Hotelmanagement besucht und drei Jahre bei einer indischen Kette für Luxushotels gearbeitet. Im März 2023 will er die Sprachprüfung bestehen, dann das Arbeitsvisum für Deutschland beantragen.

In der Bundesrepublik geht er auf Vermittlung des Deutschen Hotel- und Gaststättenverbands (DEHOGA) zur Ausbildung in die thüringische Hauptstadt Erfurt. Sorgen über das Leben in einer neuen Umgebung macht sich der Autoenthusiast nicht. "Es ist mein Traum, einen großen SUV in Deutschland zu kaufen und auf der Autobahn zu fahren. Und ich will das BMW-Museum besuchen", sagt er. Für seine Zuversicht hat er guten Grund. Anders als viele andere Arbeits-, Vermittler- und Visaagenturen sucht "Magic Billion" für seine Auftraggeber gezielt nach geeigneten Fachkräften in allen Ecken des indischen Markts.

Das Unternehmen wird von Basab Banerjee und seiner Tochter Aditi geführt. "Wir haben das Unternehmen gegründet, nicht um Firmen wie Facebook und Google zu unterstützen, sondern die kleinen und mittleren Arbeitgeber, die zwischen 50 und 5000 Menschen beschäftigen", sagt Basab Banerjee. Das Unternehmen habe seinen Namen "Magic Billion", weil es den "Zauber" von einer Milliarde Indern verkaufe.

Familiennachzug und Einbürgerung nach vier bis fünf Jahren

Für Deutschland hat Indien als Herkunftsland aber nicht nur Potential, weil dort bald mehr Menschen leben werden als im bisher bevölkerungsreichsten Land China. Der indische Markt sei auch nicht in der Lage, genügend Arbeitsplätze zur Verfügung zu stellen für die Millionen jungen Inder, die jedes Jahr ihren Abschluss machen, sagt Denise Eichhorn von der Deutsch-Indischen Handelskammer in Mumbai. Die Deutsche ist an der Kammer dort für zwei Projekte zuständig, die indische Fachkräfte gezielt bei der Auswanderung nach Deutschland unterstützen. Neben den verbreiteten Englischkenntnissen seien die Inder an den Umgang mit anderen Sprachen und Kulturen gewöhnt: "Das macht sie einfach unglaublich anpassungsfähig", sagt Eichhorn.

Auf der anderen Seite seien deutsche Unternehmen mit ihrem Ruf für Verlässlichkeit und gute Qualität für Inder interessant. Auch die Chancen für berufliche Weiterbildung würden als hoch eingeschätzt. Deutschland biete zudem die Möglichkeit des Familiennachzugs und der Einbürgerung nach vier bis fünf Jahren. Die bürokratischen Hürden sind durch das Fachkräfteeinwanderungsgesetz geringer geworden. Basab Banerjee kommt auch auf den finanziellen Anreiz zu sprechen: "Das Maximum, das sie hier verdienen können, liegt bei 200 bis 250 Euro im Monat. In Deutschland bekommen sie als Auszubildende 1000 Euro im Monat", sagt Banerjee.

Bürokratie für Inder eine Herausforderung

Bei dem von Denise Eichhorn betreuten Projekt "Pro-Recognition", das bei der Anerkennung indischer Abschlüsse hilft, sind im vergangenen Jahr etwa tausend Anfragen eingegangen. Einige Dutzend Personen seien schließlich nach Deutschland gegangen. Weniger erfolgreich verlief das zweite Projekt unter ihrer Ägide, "Hand in Hand for International Talents". Für das Programm, das gezielt Elektroniker, IT-Kräfte und Fachleute für die Gastronomie sucht, gingen mehr als 15.000 Bewerbungen ein. Da sich das indische Ausbildungssystem so schlecht auf die deutschen Anforderungen übertragen lasse, war davon aber keine einzige passend.

Die Deutsche sagt, dass viele der deutschen Unternehmen sich noch immer etwas schwer damit täten, sich auf Einwanderer aus Indien einzulassen. In der Regel zeigten sie im ersten Gespräch sehr großes Interesse. Sie schreckten aber oft zurück, wenn es darum gehe, die Fachkräfte zu integrieren. Für die Inder ist zudem die Bürokratie in Deutschland eine Herausforderung. Nicht alle Ausländerbehörden seien gleichermaßen hilfsbereit. Insbesondere wünscht sich Eichhorn mehr Kapazitäten bei der konsularischen Bearbeitung der indischen Anträge. Gerade bei der Botschaft in Delhi müssen Bewerber wegen des hohen Andrangs oft monatelang auf einen Termin für die Visabeantragung warten.

Anders als bei "Magic Billion", die gezielt für ihre Auftraggeber suchen, kümmern sich andere Agenturen um die Auswanderungswilligen, die ohne konkreten Arbeits- oder Studienplatz nach Deutschland wollen. Im Süden Delhis liegt die Agentur Rcare Overseas Education. Deren Geschäftsführerin Mani Mittal Sharma studierte vor etwa zehn Jahren für einige Zeit in Kiel. Sie betreut hauptsächlich Studenten, die auf eine deutsche Universität gehen wollen, aber auch mögliche Auszubildende und Fachkräfte vor allem aus dem Gesundheitsbereich. Sie sagt, die Lage sei heute schon ganz anders als zu ihrer Studienzeit. "Deutschland ist mittlerweile sehr offen. Man ist sich bewusst, dass die indischen Studenten Fähigkeiten mitbringen und hart arbeiten", sagt Mittal Sharma.

Vage Vorstellung von Deutschland

Über Interesse von indischer Seite kann sie sich nicht beklagen: Jedes Jahr schickt ihre Agentur etwa 140 bis 150 Studenten, 30 bis 40 Auszubildende und 20 bis 25 Fachkräfte nach Deutschland. Für sie bietet Rcare Onlinekurse zum Deutschlernen an. Hinter einer Glasscheibe spricht gerade eine Lehrerin über ihren Laptop mit ihren Schülern, die aus verschiedenen Ecken des Landes zugeschaltet sind. Eine Schülerin liest ihren selbst verfassten Text zum Thema "Vor- und Nachteile von Fast Food" vor: "Über das Thema gesundes Essen wird heute viel diskutiert . . .", beginnt sie ihren Vortrag.

Mittal Sharma sagt, es fehle vielen Indern vor allem noch an Informationen über Deutschland. Allerdings hat sich auch da viel getan. So richtet sich etwa das Onlineportal "Make it in Germany" direkt an ausländische Fachkräfte. Der 19 Jahre alte Abhinav Vaish, der seit einigen Monaten Deutsch lernt und an diesem Tag in die Agentur gekommen ist, hat nur eine vage Vorstellung vom Leben in der Bundesrepublik. Er weiß, dass die Deutschen über eine traditionsreiche Autoindustrie verfügen und dass ihnen Pünktlichkeit wichtig sei. Deutschland habe außerdem eines der besten Bildungssysteme weltweit. Deshalb hoffe er, im September seinen Sprachtest zu bestehen, um dann in Deutschland Informatik zu studieren. Wohin er will, weiß er auch schon: "Am liebsten nach München."


Quelle: msn.com, 01.03.2023