Endstation Sachsen: Was junge Auslands-Azubis in den Osten führt
Eine sächsische Initiative vermittelt Azubis aus dem Ausland. Das Ziel: Die Ausbildungslücke schließen. Drei Lehrlinge aus Vietnam und Usbekistan berichten, was sie nach Ostdeutschland zieht.
- Autorin: Lara Dehari
5000 Kilometer entfernt von Taschkent, seiner Heimat, sitzt der 20-jährige Davronbek Tursunaliev in einem unscheinbaren Großraumbüro am Rand von Dresden vor einem aufgeschraubten Computer. Mit einem Schraubenzieher in der Hand inspiziert er das Innere. Vor sechs Monaten war all das noch weit entfernt, da machte Tursunaliev in Usbekistan erst einen Deutschkurs. Nun steckt er mittendrin in einer Ausbildung zum Fachinformatiker. Mit einem One-Way-Ticket nach Deutschland.
Zuerst ging ihre Schwester nach Deutschland, dann verließ auch Ha Mi Zah ihr Zuhause. "Ist es okay, wenn ich auch gehe?", fragte sie ihre Eltern. Sie ist eine von zwei Töchtern. Aber sie wollte unbedingt dem Vorbild der älteren Schwester folgen. Seit anderthalb Jahren macht die Vietnamesin mittlerweile eine Ausbildung zur Pflegefachfrau im ambulanten Dienst und wohnt in der sächsischen Hauptstadt.
Eigentlich wollte Pham Tuan Linh nach Japan, doch dann hörte er von dem dualen Ausbildungssystem in Deutschland. Lernen und dafür Geld bekommen? Das kannte er vorher nicht. Und es klang gut. Dann also doch nicht Japan, sagte er sich, und auf keinen Fall zuhause bleiben in Vietnam – stattdessen Pflege im Dresdener Umland.
Drei Menschen, drei Lebenswege – und drei Chancen für den deutschen Arbeitsmarkt. Organisiert hat sie jeweils das Bildungswerk der Sächsischen Wirtschaft (bsw). Die gemeinnützige Organisation vermittelt ausländische Azubis direkt aus ihrer Heimat an Unternehmen im Bundesland. Dort, so die Hoffnung, sollen sie die immer weiter aufklaffende Lücke aus unbesetzten Ausbildungsstellen schließen. Denn junge Deutsche bevorzugen das Studium – und die, die sich doch für eine Ausbildung entscheiden, wollen oft nicht in strukturschwächeren Regionen wie Sachsen leben.
Knapp 14 Prozent der Ausbildungsplätze werden in der Bundesrepublik mittlerweile gar nicht besetzt, der höchste Wert seit 15 Jahren. Deshalb hilft sich das Bildungswerk selbst – und sucht in aller Welt nach Nachwuchs. Um die Fachkräftelücke doch noch zu schließen.
Ausländische Azubis – die große Hoffnung
Das bsw vermittelt seit zehn Jahren Auszubildende aus Vietnam, seit vergangenem Jahr auch aus Usbekistan. Insgesamt sind über die Initiative bereits 350 ausländische Azubis vermittelt worden.
Rund 10 Prozent von ihnen brechen laut bsw die Ausbildung ab. Das liegt allerdings deutlich unter dem bundesweiten Durchschnitt von 40 Prozent bei ausländischen Auszubildenden. Auch unter dem Wert der Deutschen übrigens: fast ein Drittel schloss die Ausbildung 2023 nicht ab, so eine Studie des Instituts der Deutschen Wirtschaft. Das Engagement zahlt sich also offenbar aus.
Insgesamt stammen bislang rund 10 Prozent der Azubis in Deutschland aus dem Ausland, Tendenz steigend. Organisationen wie das bsw gibt es mittlerweile einige, in der Bundesrepublik, aber auch in den Heimatländern. Sie veranstalten Unternehmerreisen in andere Länder, stellen Kontakte zwischen Firmenvertretern und jungen Interessierten her, betreuen die Azubis in Deutschland. Das bsw nimmt bereits seit Jahren wahr, dass sich immer mehr Unternehmen trauen, über die Grenzen hinweg nach Fachkräften zu suchen. Gleichzeitig wollen immer mehr junge Menschen nach Deutschland, weil Perspektiven in der Heimat oftmals fehlen.
Ausbildung und Praxis – ein unbekanntes Konzept in Usbekistan
Zurück in Tursunalievs Großraumbüro. Der junge Usbeke macht seine Ausbildung sogar direkt beim bsw. Hier überprüft er die technischen Geräte der anderen Mitarbeiter und entwickelt die IT-Systeme weiter.
Den Kontakt nach Deutschland schaffte sein Vater. Dieser arbeitet in seiner Heimat als Deutschlehrer. Deshalb setzt sich Tursunaliev bereits seit seiner Kindheit mit dem Land auseinander. Dass er nach Deutschland gehe, sei schon lange klar gewesen, sein Vater habe ihn dazu ermutigt. Als er dann 2022 mit seinem Vater im Urlaub in Berlin war, stand der Umzug endgültig fest: "Das war eine große Motivation für mich. Ich habe Deutschland mit meinen eigenen Augen gesehen. Nach dieser Reise wollte ich unbedingt herziehen."
Tursunaliev hatte bereits zuvor ohne Ausbildung in der Informationstechnik (IT) gearbeitet. Lediglich ein Fachgymnasium mit IT-Fokus hatte er abgeschlossen. Langfristig hätte er auch in der Heimat eine Fortbildung besuchen müssen. Das Konzept der dualen Ausbildung in einem Betrieb gebe es in Usbekistan nicht, sagt er, lediglich theoretische Ausbildungen oder eben ein Studium. Auch deshalb hatte er sich entschieden, das Land zu verlassen.
Auch die Berufsschule besucht Tursunaliev in Dresden. Er ist der einzige Ausländer in seiner Klasse. "Am Anfang hatte ich ein bisschen Angst, aber die anderen haben mich mit großer Freude aufgenommen."
Nach sechs Monaten im Land lächelt er nach wie vor, wenn er über seine Ausbildung und die Entscheidung, nach Deutschland zu kommen, nachdenkt – enttäuscht habe ihn das Land bisher nicht.
Die verzweifelte Suche nach Azubis
Matthias Wissel, Standortleiter bei der Firma Henngineered, wird im Sommer den ersten usbekischen Azubi für seinen Standort im Vogtlandkreis, circa 150 Kilometer westlich von Dresden, aufnehmen. In den vergangenen Jahren ist das Interesse an ausgeschriebenen Ausbildungsstellen in seinem Betrieb zurückgegangen. Jetzt sucht das Unternehmen selbst, um freie Stellen zu besetzen.
Er ist erfreut über das steigende Interesse ausländischer Bewerber an Unternehmen in Sachsen. Henngineered beschäftigt bereits jetzt ausländische Fachkräfte, Erfahrungen in Bezug auf die Integration habe man also schon gemacht.
Trotzdem seien in seinem konkreten Fall Vorbehalte da gewesen: Inwieweit ist Usbekistan industrialisiert? Ist das Abitur dort auf akzeptablem Niveau? Laut bsw Fragen, die häufig aufkommen, aber sich schnell aus dem Weg räumen lassen. Die Azubis brächten nicht nur eine gute Allgemeinbildung, sondern auch eine Motivation mit, die viele andere nicht besäßen: Der Wunsch, die Familie zuhause stolz zu machen sowie eine hohe Lernbereitschaft und Dankbarkeit für die Möglichkeiten.
Monatelang nichts als Deutschkurse
Genau diese Lernbereitschaft musste auch Pham Tuan mitbringen. Denn lange wusste er nicht mal, dass er in die Pflege gehen wollte. Und erst recht nicht, dass er nach Deutschland auswandern würde. Er hatte vor seinem Umzug nach Deutschland in einem Kunststoff-Betrieb gearbeitet. Als sein Vater länger im Krankenhaus lag, kümmerte er sich um ihn und lernte das medizinische Umfeld kennen. Er sah, wie sich Pflegekräfte um die Patienten bemühten, wie eng der Kontakt zwischen ihnen war und entschied für sich: Das will ich auch.
Insgesamt knapp ein Jahr lag für ihn zwischen dem Entschluss, nach Deutschland zu gehen, und dem ersten Arbeitstag. Dazwischen: acht Monate Deutschkurse, Bürokratie und Visum, der Umzug, noch mehr Deutschkurse und schließlich der Beginn der Ausbildung. Knapp drei Jahre, Theorie und Praxis im Wechsel, die Gruppen gemischt mit deutschen Azubis, parallel weiterhin Deutschunterricht.
Trotz der vielen Kurse, die Pham Tuan Linh absolvieren musste, sei die Kommunikation oft noch eine Herausforderung, sagt er: "In den Kursen lernen wir Hochdeutsch. Doch die Menschen, die wir behandeln, sprechen meistens Dialekt oder Umgangssprache."
Ein weiterer Störfaktor: Rassismus im Alltag. Er wurde auf der Straße schon häufiger mit der chinesischen Begrüßung "Ni Hao" angesprochen. "Ich tue dann so, als hätte ich nichts gehört, aber stören tut es mich schon." Dennoch ist das auch für ihn kein Grund, übers Wegziehen nachzudenken.
Staatliche Unterstützung: Fehlanzeige
Bsw-Geschäftsführer Hübner sieht vor allem auf lange Sicht eine große Chance in ausländischen Azubis. Es müsse von vorneherein klar kommuniziert werden, welche Perspektiven die Azubis in Deutschland hätten, am besten im selben Betrieb. Das verringere auch das Risiko eines Abbruchs.
Was dabei klar sein muss: Ausländische Azubis müssen von vorneherein gut aufgenommen werden, sonst scheitert die Integration: "Man muss dann auch schon mal anpacken. Für unsere usbekischen Azubis haben wir vor dem Start eine Wohnung organisiert, sind zu Ikea gefahren und haben Möbel gekauft", erklärt Hübner.
Dinge, die die Integration dabei einfacher machen: Infrastruktur und verfügbarer, günstiger Wohnraum. Dinge, die sie nicht einfacher machen: vorwiegend finanzielle Unterstützung, wie sie im Fachkräftezuwanderungsgesetz beispielsweise bei Deutschkursen vorgesehen ist. Hübner meint, dass die Kostenübernahme der Rekrutierung und Vorbereitung der Azubis nicht das eigentliche Problem sei: "Unternehmen, die dringend Azubis brauchen, sind bereit, dafür auch Mittel auszugeben. Aber es fehlt an bezahlbarem Wohnraum und vor allem Infrastruktur für ein zielgerichtetes Wohnraum- oder Unterkunftsmanagement." Ausländische Azubis seien vollständig auf öffentliche Verkehrsmittel angewiesen. Wenn die Busse auf dem Land aber nur zweimal am Tag führen, sei das auch logistisch eine Herausforderung.
Endstation Deutschland
Die aufwendige Wohnungssuche hat auch Azubi Ha Mi Zah durchgemacht. Jetzt wohnt sie nahe des Dresdener Hauptbahnhofes, doch das war ein Prozess. Mit den öffentlichen Verkehrsmitteln dagegen habe sie kein Problem, erzählt sie mit einem Lachen. Sie habe sich daran gewöhnt, dass Busse und Bahnen seltener fahren, als sie es aus ihrer Heimat in Südvietnam gewohnt sei.
Und die Ausbildung selbst? Ha hatte zuvor ein Medizinstudium daheim angefangen, Ärztin hätte sie damit aber ohnehin nicht werden können. Wer einen medizinischen Beruf ausüben möchte, müsse studieren, egal ob Pflegefachkraft oder Oberärztin. Deshalb würde eine Ausbildung in Vietnam, sagt sie, immer zum Großteil auf Theorie aufbauen und nur wenige ausgewählte Praxiselemente beinhalten. Noch dazu: unbezahlt. Die duale Ausbildung in Deutschland sei deshalb ein Traum für sie.
Zurück nach Hause? Das kann sich Ha nicht vorstellen. Sie will auf jeden Fall auch nach der Ausbildung in Dresden bleiben. "Hier ist es ruhiger, entspannter und die Umwelt ist schön. In Vietnam arbeiten die Menschen viel mehr. Alle Geschäfte sind dauerhaft offen. Das bedeutet auch Stress. Es ist immer etwas los."
Auch rassistische Erfahrungen ändern nichts daran. Ha berichtet, dass Patienten sie darum gebeten hätten, einen Kollegen oder eine Kollegin vorbeizuschicken, weil sie sich nicht von ihr behandeln lassen wollten. "Das ist mir egal. Sie haben keine Wahl", sagt sie mit einem Schulterzucken.
Während immer mehr Unternehmen verzweifelt nach Auszubildenden suchen, macht der Staat es ihnen immer schwerer. Die Bearbeitung von Visas habe sich laut bsw beispielsweise verlängert. Statt zwei Wochen, wie es noch bei Ha der Fall war, dauert die Bearbeitung von Visas aus Vietnam mittlerweile drei Monate.
Dennoch dürften in Zukunft mehr Azubis aus dem Ausland in deutsche Unternehmen kommen. Denn das Interesse von deutschen Schulabsolventinnen droht eher noch abzunehmen, prognostiziert das bsw. Denn wer diese fragt, welche Erwartungen sie an ihre Ausbildung oder ihr Studium haben oder auch ihren Arbeitgeber, wird vermutlich komplexe Antworten hören: eine schöne Großstadt bitte, dazu günstig wohnen, viel Flexibilität und Freiraum, viel Homeoffice und wenig Überstunden.
Wer die jungen Azubis aus Usbekistan und Vietnam fragt, bekommt lediglich eine Antwort: praktische Erfahrungen sammeln und die Ausbildung erfolgreich abschließen.
Quelle: WirtschaftsWoche, wiwo.de, 16.01.2025